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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Immer wenn ich das einstudierte Wissen aus dem Baedeker wiederholte, sagte ich mir alles laut auf, das Nützliche genauso wie das Belanglose, am Schluss sogar den Namen des Herausgebers, den Hinweis auf den Grafiker, die Namen der Mitarbeiter, der Drucker, der Fotografen, schließlich auch das Copyright by , was mir am meisten Mühe machte, denn zu diesem Zeitpunkt war für mich alles gleich abstrakt und unbegreiflich und als reines Wissen ohne irgendeinen praktischen Nutzen.
    Durch die Tür in der Felswand sah ich auf das offene Meer hinaus, es wirkte in diesem Augenblick unendlich und mystisch auf mich. Das war ein vom Zauber durchdrungener Augenblick, vielleicht der schönste, der in meinem Gedächtnis in seiner ganzen Klarheit von diesen Stunden geblieben ist, denn nach meinem kopflosen Rennen und der atemlosen Suche nach der Unbekannten zeigte das Meer sich mir in jener Maßlosigkeit, die an aufregende Abenteuer und Schiffsbrüche denken lässt, an eine Geschichte, die sich auf dem Festland nie ereignen kann, weil das Wasser immer auch mit dem Geheimnis verbunden ist, ein in sich beweglicher Kosmos, deswegen hat das Meer in meinem Inneren immer die Natur dargestellt und einen wichtigen und symbolischen Platz eingenommen. Geschichten über Galeeren und Piraten kann man mir nicht oft genug erzählen.
    Der Anblick des Meeres nahm mir den Atem, ich ging zu jenem »Türchen des Südens«, doch das Herz blieb mir fast stehen, denn es kam mir vor, als würden die Felsen sich in einer unermesslichen Tiefe nach unten erstrecken, ich wich zurück, bekam Höhenangst und traute mich nicht, durch das Türchen zu gehen, um mir die Felsen genauer anzuschauen. Diese Angst hat mich von diesem Augenblick an nie mehr losgelassen. Im Gegenteil, mit der Zeit wurde sie sogar immer schlimmer, aber ich erinnere mich daran, dass ich die Luft angehalten und mich an einem Stein festgeklammert habe, einen Blick nach unten wagte, auf den Abgrund warf, auch aufs Meer, das sich schäumend Welle für Welle in der Bucht abstieß. Meine Handflächen schwitzten, der Schwindel im Kopf drückte auf meine Ohren und machte mich fast taub. Es kam mir vor, als ob die Möwen mich wie Aas umkreisten, dass sie in jedem Moment im Sturzflug auf mich niederschießen könnten, aber sie flogen nur kreischend über mich hinweg. Ich fühlte mich wie ein Köder, den man an die Felswand gekettet hatte. Auf dem offenen Meer erblickte ich ein Schiff, und das beruhigte mich etwas.
    Nur kurze Zeit nachdem ich die Fassung gerade wieder zurückgewonnen hatte, fing mein Herz erneut an zu rasen, denn am Rand eines Felsens entdeckte ich plötzlich die davongelaufene Braut; wie eine weiße Skulptur stand sie dort und sah hinunter in die Tiefe des Meeres. Sicher hat sie mich in ihrer jämmerlichen Lage überhaupt nicht bemerkt, aber an ihrer freudigen Geste konnte ich erkennen, dass sie genauso wie ich das Schiff in der Ferne gesichtet hatte. Sie musste irgendetwas gesagt haben, denn ich hörte in kleinen Intervallen das Echo ihrer Stimme. Das Schiff war hinter der Insel Lokrum in See gestochen und war auf dem Weg zum Hafen, es entfernte sich sehr schnell, und in der Weite am Horizont, an der Stelle, an der das Meer mit dem Himmel zu verschmelzen schien, baute sich ein Unwetter auf, immer schneller verdunkelte sich der Himmel, aber es war so weit entfernt, dass man das Donnern nur ahnte, nicht aber wirklich hörte. Zu hören war aber die Schiffssirene, die ihre Hafeneinfahrt ankündigte.
    Der Wind machte sich an die Taille der Braut heran; wenn er heftiger wurde, wurde ihr Kleid an ihren Körper gepresst und zeigte so seine Formen. Ich wollte schon fast ein Steinchen ins Meer werfen, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, aber wagte es am Ende nicht, mich auch nur von der Stelle zu rühren, ich ging sogar noch tiefer in die Hocke und versteckte mich. Sie lehnte sich gegen den Wind, schien zufrieden zu sein, wie einer jener Engel, die in den Geschichten meiner Urgroßmutter Petruša vorkamen. Der Wind kroch unter ihr Brautkleid, ihr Schleier flog auf, in Richtung der Felswand. Sicher stand die Braut, mit ausgebreiteten Armen, noch lange genau so im Wind, aber ich konnte sie aus meinem Verschlag heraus nicht mehr sehen.
    Sehr oft habe ich später den Flug jenes Vogels beschrieben, der seine Kreise über der Braut zog; es ist ein unvergessliches Bild für mich, etwas, worüber ich immer erzählen kann und werde, solange ich am Leben bin.

43
     
    Ich verschwand durch die

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