Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
können und bei ihr bleiben müssen; weil ich »nahe am Wasser gebaut hatte«, »ein Gefühlsbündel«, wie es einmal ein mir sehr lieber jüdischer Schriftsteller formuliert hatte, hätte mich ihr Sturz vollends aus der Bahn geworfen und meinen Aufenthalt in der Stadt in jedem Fall verlängert. Wo ich in einem solchen Fall übernachtet hätte, weiß ich nicht und auch nicht, was für Abenteuer noch meiner geharrt hätten, vielleicht hätte ich noch etwas viel Schwerwiegenderes erleben müssen, als es die Sache mit den Mädchenschuhen schon für mich war, und das hatte mich schon tief genug verletzt. Was sollte ich also tun, den Vater hatte ich nicht gefunden, in der Stadt war ich so gut ich konnte überall herumgegangen, überzeugt davon, dass ich auf ihn treffen würde, deswegen hatte ich mich am Vormittag so lange in Gruž aufgehalten, hatte das Haus des Großhändlers Maras ausfindig gemacht. Jetzt war ich immer noch unverrichteter Dinge hier, aber niemand konnte es mir zum Vorwurf machen, ich werde, sagte ich mir, mit Stolz nach Hause zurückkehren, ich habe ja einige Kleinigkeiten und Geschenke für jene besorgt, die ich am liebsten habe. Ich hatte aber auch allerhand erlebt, darüber würde ich ihnen natürlich erzählen können, viele Jahre danach, vielleicht auch schreiben. So wäre kein Augenblick verlorene Zeit gewesen, ganz gleich, ob es etwas Unangenehmes oder euphorisch Schönes war. Und selbst wenn man als Schriftsteller über nichts schreiben kann, so führt dies zu der Erkenntnis, dass auch die Literatur ohnmächtig und diese Arbeit letzten Endes absurd ist.
Ich rannte direkt in die offene Tür einer Kellerschenke, in der ein schwaches Licht brannte, ein weißhaariger Mann, der mit dem Rücken zur Straße stand, nahm sich in diesem Augenblick Wein vom Fass, er beugte sich mehrmals vor und zog mit dem Mund an einem Gummischlauch. Außer Atem erzählte ich ihm alles, was mir passiert war, sagte, dass ich nicht mehr in der Lage war, aus dem Wirrwarr der Straßen herauszufinden, dass ich immer wieder an den gleichen Punkt gekommen war und nicht mehr weiterwusste. Aber er hörte mich nicht oder er tat so, als höre er mich nicht, aber ich erzählte ihm trotzdem noch einmal, dass ich schon zweimal an den gleichen Ort gekommen war, namentlich an jene Stelle, an der ich das Kreuz in die Wand geritzt hatte, dann sei ich wieder an der kleinen Öffnung in der Felswand angekommen, obwohl ich damit gar nicht gerechnet hatte, denn diese Felswand war der eigentliche Grund für meinen Albtraum. Wäre ich dort nicht hingekommen, stünde ich, sagte ich, längst an der Bahnstation in Gruž. Der Mann nahm eine Karaffe in die Hand und füllte sich in aller Ruhe seinen Wein ab. Es war Rotwein, das Gefäß war schnell gefüllt. Ich überlegte, ob ich nicht losweinen sollte, um diesen gleichgültigen Menschen ein wenig aus der Fassung zu bringen, aber dann erhob er sich mit der Karaffe im Arm, sah mich an und fragte: »Zu wem gehörst du denn?«
Zu wem ich gehöre? Ich war mir nicht sicher, ob das eine Frage nach meiner Herkunft oder nach meiner inneren Natur war, aber was auch immer es bedeutete, ich hatte keine Lust, noch mehr Zeit mit diesem verschrobenen Mann zu verlieren, deswegen schaute ich ihn brüsk an, ich glaube, ich streckte ihm sogar die Zunge raus, und rannte die Straße hinunter. Jetzt war ich nicht mehr der wankelmütige Junge, der von einer in die andere Straße lief, ich entschied mich nun schnell für eine Richtung, und endlich gelang es mir, aus der schrecklichen Gewalt der Straßen hinauszukommen und damit auch aus meiner eigenen Verwirrung. Wie es mir gelungen ist, zum Fürstenpalast zu kommen, weiß ich nicht mehr, aber dort erfasste mich große Freude, weswegen ich sanftmütig mein Gesicht an einen warmen und schön bearbeiteten Stein legte. Über die Kunst der Steinbearbeitung hatte ich damals schon sehr viel gelesen, weil ich meine Lehrerin beeindrucken wollte. Dieser Liebe verdanke ich auch einiges andere an erworbenem Wissen.
Wann ich begriffen habe, dass dieses Gebäude eine Festung war, weiß ich nicht mehr, aber als mir außerdem klar wurde, dass dort auch eine Sonnenuhr angebracht ist, war ich von diesem Gebäude besessen. Steht die Sonne im Zenit, schneidet der Schatten des Dachkranzes die Vorderseite des Schlosses und schlägt ohne Glocken oder irgendeinen anderen Hilfsmechanismus die Mittagsstunde. Am längsten Tag des Sommers ist dieser Schatten auf der Hälfte des südlichen
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