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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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sei.
    »Ist es etwa nicht so gewesen?«, fragte ich meine Mutter.
    »So war es, aber das ändert nichts daran, dass du dich nicht erinnern kannst«, sagte sie.
    »Warum kann ich dir dann aber sogar verschiedene Einzelheiten beschreiben?«
    »Vielleicht hast du später Wind von alledem bekommen, es waren ja viele Leute da, man hat sich oft darüber erzählt.«
    »Ich kann mich sogar an das Hemd des jungen Mannes erinnern, es war schweißnass.«
    »Um das in Erinnerung behalten haben zu können, hättest du schon irgendeine göttliche Begabung in dir tragen müssen«, sagte meine störrische Mutter. »Und wenn du diese Direktverbindung zum Himmel hättest, dann dürftest du gar nichts darüber erzählen, das könnte dir nämlich Unglück bringen, denn Gott könnte dir diese zuteilgewordene Gnade schneller entreißen, als dir lieb ist.«
    Sie war überzeugt davon, dass ich lediglich die Geschichten der anderen aufschnappte und kreativ verarbeitete, dass ich das gemeine Getuschel der Leute als mein eigenes Erleben ausgab, nur um die Version ihrer aalglatten Familiengeschichte mit meiner eigenen zu unterwandern. Ich bin nicht der Einzige, dem so etwas widerfahren ist und dem seine Eltern den Vorwurf der Lüge gemacht haben. Jeder kennt das mehr oder weniger von sich selbst. Es fallen mir auch unzählige Schriftsteller ein, die über solche Erfahrungen geschrieben haben, manchmal sogar auf eine maliziöse Weise, denn viele von uns sind von unseren Eltern als kleine Lügner abgestempelt worden.
    Für mich sind das aber alles in allem nebensächliche Ereignisse, ein paar Fresken auf der kalten Wand der Vergangenheit, die ich im Schreiben betrachten, aber auf die ich nicht allzu viel Zeit verschwenden kann. Ich bin zudem kein großer Hoffender, sehr wohl aber ein verwundbarer Mensch, der die Angewohnheit hat, immer nachzugeben, gerade bei jenen, die schwächer sind als ich. Unzählige Male habe ich meine Erinnerungen durchforstet, war auf der Suche nach den ersten Dingen, hatte mich wieder korrigiert und mich Stück für Stück von den verschiedenen Erinnerungsversionen verabschiedet, aber das, was ich in dieses Buch hineingerettet habe, das ist wirklich so passiert, weshalb es sich auch nicht mehr ändern lässt.

15
     
    Vater war an die zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Er kannte sie schon, als sie noch ein drahtiges junges und recht forsches Mädchen war. Sie stammte aus einer guten Familie und war eine der besten Schülerinnen in der ganzen Schule. Ihr Vater Tomo, mein Großvater, hatte ernsthafte Pläne mit ihr. Als seine Tochter aber, ohne einen Schulabschluss gemacht zu haben, einen Gemischtwarenhändler heiratete, den man in der ganzen Gegend als Trinker und Frauenheld kannte, war er so erschüttert, dass er sich erst geraume Zeit danach, namentlich bei meiner Geburt, von diesem Schrecken erholte. Er tat aber nichts, um die Hochzeit zu verhindern. Es war ein Tag der Trauer für ihn, und er trank sogar ein paar Gläschen über den Durst, was sonst eigentlich nicht seine Art war. Außerdem verweigerte er seiner Tochter die obligatorische Tischrede. Seinen Schwiegersohn schloss er nie ins Herz. Zählte man die Worte zusammen, die mein Vater je an ihn richtete, käme nicht mehr als eine Stunde zusammen, die er in seinem ganzen Leben mit ihm geredet hat. Sie hatten sich aber durchaus etwas zu sagen, nur hassten sie sich so sehr, dass sie einander nicht einmal mit Beleidigungen nahekommen wollten. Sie waren mit der Zeit im Vermeiden eines Gesprächs derart gut geworden, dass alles andere ohnehin sinnlos war, das Schweigen hatte sich als die beste aller Methoden erwiesen, aller Uneinigkeit zum Trotz, ein einigermaßen »friedliches Leben zu leben«.
    Ob Großvater mich beeinflusst und dazu gebracht hat, mich gegen meinen Vater aufzulehnen, könnte ich gar nicht beantworten, ich weiß nicht einmal selbst, was ich damals für meinen Vater empfand. Alles, was ich weiß, ist, dass ich meine Mutter beschützen wollte, vor allem dann, wenn er sie schlug. Ich war immer auf ihrer Seite, diese Dinge musste man mir nicht erklären, sie erklärten sich von selbst. Meine Mutter war für mich eine Heilige, auch dann, wenn sie mich wegen des Kummers, den ich ihr machte, bestrafte. Als ich etwas größer geworden war, schien mein Vater zu begreifen, dass Mutter in mir jetzt einen Beschützer hatte. Deshalb kam er mehr und mehr zur Ruhe. Und als ich zwölf Jahre alt wurde, war Vater schon ein ganzes Stück friedlicher und sanfter

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