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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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er auch für seine Erziehung zuständig war. Er zweifelte an seiner Autorität und sagte: »Wer wird denn schon auf jemanden hören, der sich selbst nie etwas hat sagen lassen? Und wer wird schon Angst vor einem Angsthasen haben?«
    Wer auch immer von ihm verlangte, auf den »kleinen Teufel Anđelko« erzieherisch einzuwirken, bekam etwas über seine mangelnde Autorität zu hören, wegen der er ja selbst keine Frau und keine eigenen Kinder hatte. »In mir gibt es nichts Väterliches, außer meiner eigenen Sehnsucht nach einem Vater«, sagte er.
    Er war von einem anderen Schlag, unsicher und unentschieden, deshalb wundert es überhaupt nicht, dass nach seiner Rückkehr nach L. ganze achtzehn Jahre vergehen mussten, bis auch er heiratete, aber auch erst dann, als er nach Trebinje zog und im Erdgeschoss seines Hauses einen Gemischtwarenladen eröffnete. Eine Wirtschaft kam in den gleichen Räumlichkeiten irgendwann hinzu. Sein Steinhaus in L. hatte er verriegelt. Erst im Juni 1941 kehrte er mit mir und meiner Mutter dorthin zurück. Just zu diesem Zeitpunkt stellte sich eine Formation der italienischen Division Marche in Trebinje auf. Eine militärische und zivile Verwaltung sollte ins Leben gerufen werden. Vater war großzügig und bot jungen italienischen Offizieren vom Sanitätsdienst sein Haus an.
    Die Jahre in Trebinje, oder wie es mein Vater selbst ausdrückte, »vorher und nachher« lebte er als armer Händler und Wirt, der mehr trank, als er verkaufte, und mehr spendierte, als er in Rechnung stellte. Manchmal verschwand er einfach aus heiterem Himmel für eine ganze Woche und kümmerte sich nicht um seine Geschäfte. Sein Bruder Anđelko übernahm dann seine Vertretung, aber noch am gleichen Abend vertrank er das am Tage eingenommene Geld mit seinen Kumpels.
    Als Vater heiratete, machte er noch eine Weile so weiter, es war ihm egal, dass seine Frau, meine Mutter, sehr viel jünger war als er. Seine Launen wurden noch wechselhafter. Jetzt verschwand er manchmal für einen ganzen Monat, machte nicht einmal eine Andeutung, wann er zurückkommen würde. Er stürzte Mutter damit in große Sorgen, aber sie war tapfer, nahm die Geschäfte im Gemischtwarenladen an sich, führte den Laden sicher und entschieden, sogar mit kaufmännischer Hand, sodass von diesem Zeitpunkt an bis zum April 1941 das Geschäft sogar zu florieren begann. Eigentlich war es sogar eine gute Zeit, denn 1937 begann man in Trebinje Eisenbahnschienen zu verlegen: die Route Trebinje–Nikšić. Die Stadt war voller Ausländer und Arbeiter aus allen Gegenden Jugoslawiens. Die meisten von ihnen kamen aus der Lika. Es waren verschwenderische Leute, die ihren Lohn jeden Tag vertrunken hätten, wenn meine Mutter sie nicht malträtiert hätte, ihr die Gehaltsrechnungen zu zeigen. Wenn sie dann einen Blick drauf geworfen hatte, bedrängte sie die Männer, dass sie einen Teil des Geldes ihren Familien schicken sollten. Auf diese Weise gewannen die Arbeiter sie lieb, weil sie im Grunde auf diese Weise ihre Familien rettete, dabei hätte sie sie wie eine Gans ausnehmen können. Sie war richtig beliebt unter den Arbeitern, was zu häufigen Eifersuchtsanfällen bei meinem Vater führte.
    Wann immer ich als Kind und später auch als Erwachsener auf einen jungen Mann zu sprechen kam, den ich in besonderer Erinnerung behalten hatte, drohte mir meine Mutter mit der Faust. Der Fremde hatte eine typische Mütze aus der Lika getragen und einmal sogar versucht, meinen Vater mit einem Messer zu treffen. Das Messer war in einem Holzregal gelandet. Mutter wollte nicht, dass ich mich daran erinnerte oder gar laut darüber sprach. Aber das Messer war nur einen Zentimeter neben Vaters Kopf vorbeigesurrt und hatte noch lange im Holzregel wegen der Wucht des Wurfes vor sich hin gezittert. Dieses Zittern war bei uns ein sicheres Zeichen für den »Todeston«. Wann immer ich aber darauf zu sprechen kommen wollte, verzog sich Mutters Mund zu einem ungehaltenen Strich und sie sagte: »Sei still, du kannst dich überhaupt nicht daran erinnern, du warst viel zu klein.«
    Aber warum hatte sich in meinem Gedächtnis die Erinnerung an jenen Tag dennoch so genau festgesetzt? Wie war es möglich, dass ich mich sogar an einige Details genauestens erinnerte, beispielsweise Vaters Todesangst, denn er zitterte neben dem Regal genauso wie das Messer im Regal, als der junge Mann ihn anbrüllte und sagte, dass er eine solche Frau überhaupt nicht verdiene und ohnehin viel zu alt für sie

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