Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Streichholzschachtel. Unzählige Male musste ich um einen Platz am Fenster kämpfen; dann wartete ich dort voller Vorfreude auf meinen Vater und machte mich sofort bemerkbar, jeder sollte wissen, dass ich mir Gedanken um ihn machte, dass ich diesen Platz für ihn errungen hatte, deshalb redete ich schnell und laut, und einiges davon war ganz bestimmt überflüssig. Kurz bevor es losging, betrat mein Vater den Zug, und ich sprang heraus. Aber nur, wenn Vater abends wegfuhr und es nach Abfahrt des Zuges schnell dunkel wurde; sonst fuhr ich eben am liebsten noch ein paar Kilometer mit. Sprang ich jedoch schon an der Station aus dem Zug, blieb ich noch auf dem Gleis stehen, vor dem Waggon, während Vater mit seiner erhabenen Statur oben am Fenster stand und mich gerührt und gütig betrachtete. Er bat mich jedes Mal, noch eine Weile auf dem Gleis zu bleiben, damit wir uns zuwinken konnten.
Im Haus war alles leer und öde ohne ihn. Alle Räume schienen von Trauer erfüllt, wenn ich zurückkam, sie wirkten verlassen ohne diesen fröhlichen Mann, ohne eine männliche Stimme. Und dann hörte man obendrein nichts von ihm und wir wussten nicht, wann und ob er überhaupt zurückkommen würde.
Wenn ich Vater zum Morgenzug gebracht hatte, ging ich abends wieder zur Bahnstation und wartete dort auf ihn, aber er kam selten am gleichen Tag zurück. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, jeden Abend zu den Gleisen zu gehen und auf den einfahrenden Zug zu warten. Wenn der Zug kam, wurde er schnell leer. Die Reisenden hatten es immer eilig, ihre Sachen nach Hause zu tragen. Jeder wollte so schnell wie möglich zu seiner Familie zurück, jeder, nur mein Vater nicht.
Ich blieb bis zu den frühen Morgenstunden dort sitzen. Einmal, als ich auf Vater wartete, schlief ich auf der Bank unter der Platane ein. Ich war müde und fiel ganz schnell in den Schlaf. Um mich herum hörte ich viele Stimmen und es wurde laut gepfiffen, aber das störte mich überhaupt nicht. Wenn man mit der Hand gegen den Wasserhahn drückte, den es an der Station gab, fing das Wasser gleich an zu fließen. Ich hörte das Gluckern des Wassers und die Leute bückten sich, um es sich direkt in den Mund fließen zu lassen, weil sie sehr durstig waren. Ich konnte meinen Kopf nicht heben, um zu sehen, wer gerade das Wasser trank, jede Bewegung erschien mir anstrengend. Mutter fand mich irgendwann auf der Bank und brachte mich nach Hause. An diesen gemeinsamen Rückweg erinnere ich mich nicht mehr, denn ich schlief fast im Gehen ein.
Während ich diese Zeilen hier schreibe und mich anstrenge, jene Zeit vor mein geistiges Auge zurückzuholen, wird mir klar, wie viel in unserem Leben von flüchtiger Natur ist und wie schnell sich alles im Nichts verlieren kann. Nur die Abschiede von meinem Vater sind meiner Erinnerung nicht abhandengekommen, sie haben sich tief in mich eingebrannt. Schaue ich zurück, kommen sie mir vor wie Rituale, die wie nichts anderes fest zu uns gehörten. Es ist, als sei da ein innerer Plan in uns gewesen, dem wir Abschied für Abschied gefolgt sind, damit wir uns später einmal davon erzählen konnten, später, wenn das Leben leichter geworden sein würde und wir begriffen hätten, wie nahe wir einander immer gewesen sind.
27
Das Leben an den Gleisen – was ließe sich nicht alles darüber erzählen! Ständig trieben wir uns dort herum, inspizierten jede Ecke an der Bahnstation, kramten im Schotter, wurden fündig, rannten im Tunnel umher, stromerten herum, waren Horden von Kindern, manchmal sogar durchmischt mit Erwachsenen; jeder von uns hatte die Hoffnung, dass er dort eines Tages etwas Kostbares finden würde. Jemand musste doch gerade hier etwas verloren haben! Aus dem fahrenden Zug musste doch mal ein Koffer abhandengekommen sein! Jemand musste doch in Panik mindestens einmal seine Tasche durch das Fenster rausgeworfen haben! Eine Tasche voller Schmuck natürlich. Von einem Raubüberfall! Jeder durchfahrende Zug brachte etwas Neues mit sich, aber eines blieb immer gleich: Wir Kinder winkten fremden Reisenden so euphorisch nach, wie wir sonst niemandem nachwinkten. Könnte das nicht das Bild aller Bilder sein, wenn man an Sehnsucht denkt, Sehnsucht nach dem, was wir Welt nennen? Die Züge gehörten zu der Welt unserer Spiele, es waren gefährliche, verlockende Spiele, denn wir spielten mit etwas, das nicht nur schneller war als wir, sondern auch zu einer wirklichen Gefahr werden konnte. Noch heute bekomme ich manchmal Gänsehaut, wenn ich
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