Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
mehr für den Klang als für die Reparatur der Schienen zuständig. Seinen Klopfhammer nannte er den Dirigentenstab, sich selbst in dieser Konsequenz dann tatsächlich einen Dirigenten. Er war einer meiner wenigen Verwandten, die mir imponiert haben, denn nur auf diese ausschließliche Weise kann man in seinem eigenen Fach ein Meister werden. Seine Dienstzeit, in der er sorgsam die Gleise bewachte und seine kleinen Kunststücke aufführte, beendete er immer mit einem Ritual und pinkelte direkt neben die Schienen. Er behauptete, er habe einen Urinstrahl wie ein Pferd, und sagte, dass ihm kein Zweibeiner dieses Rauschen nachmachen konnte. Alle wussten von dieser selbstgewählten Disziplin meines Verwandten, denn jeder bekam früher oder später seine Zirkusnummer zu Gesicht. Mit den hier niedergeschriebenen Sätzen möchte ich meinen lieben, aber hirnverbrannten Dirigenten ehren, der später Dekan an der Fakultät für Verkehrswesen in Belgrad wurde.
Auf dem Gleis, wenn ich in der Frühe mit Vater auf den Zug wartete, war es immer aufregend, es gab so viel zu sehen. Mir konnte kaum etwas entgehen, und das verdankte sich meinem unruhigen Gemüt, ich konnte einfach noch nie ruhig an einer Stelle stehen bleiben. Einmal habe ich meinen Vater dabei erwischt, eine seiner blutjungen Cousinen beidhändig zu umarmen. Er war so von ihr hingerissen, dass er die Zuglokomotive, die schon die Abfahrt des Zuges ankündigte, gar nicht hörte. Vater liebte die Frauen, ganz egal, ob es sich gerade um eine junge Schwägerin handelte, die in die Familie einheiratete, oder um andere Verwandte, die fortzogen und in einer anderen Region Männer fanden, auch junge Mädchen, die gerade im heiratsfähigen Alter waren, entgingen seinem Auge nicht. Er wusste immer, wie man mit ihnen umgehen musste, half ihnen bei der Ernte und anderen Arbeiten, stieg auch mal auf ein Pferd, um sie zu beeindrucken. Und wenn Heu gedroschen wurde, versteckte er sich hinter den hohen Ballen auf dem Dreschplatz von L. und küsste die eine oder andere von ihnen, das nahm ich jedenfalls an, denn einmal hörte ich, dass er mit jemandem im Flüsterton sprach und schwerfällig atmete. Wenn sich mein Vater erst einmal in eines der Mädchen verguckt hatte, machte er ihm auch gerne Geschenke, brachte ihm Schmuck mit, den er irgendwo an der Küste kaufte. Er bereiste den ganzen Süden von Risna nach Kotor, und manchmal kam er sogar bis nach Zadar.
Wenn er nicht in weiblicher Gesellschaft war, sich nicht vergessen und entspannen konnte, dann plauderte Vater mit seinen Bekannten. Alle liebten es, sich mit ihm zu unterhalten, er hatte Witz und war geistreich, aber auch ein sehr guter Redner, der seinen Gegnern zusetzen konnte. Er war dafür bekannt, dass er verbale Duelle immer zu seinen Gunsten entschied. Auch wenn ich eine Zeit lang Konflikte mit ihm hatte und es Stunden gab, in denen ich ihn auch hasste, schaffte nur er es, mich so tief zu berühren, dass ich wegen meines inneren Aufbäumens Schuldgefühle bekam. Er manifestierte auf diese Weise das Gewissen in meiner Seele, denn nach jedem Streit behandelte er mich liebenswürdiger als je zuvor. Ich habe mich immer an die Verwandtschaft meiner Mutter gehalten und nichts von meinem Vater vererbt bekommen, doch nur ihm ist es zu verdanken, dass ich fähig geworden bin, Reue zu empfinden. Er hat unzählige Male betont, dass ein Mensch kein Mensch ist, wenn er keine Schuld empfinden könne, selbst dann, wenn er ein reines Gewissen hätte. Es ist schwer, mit den eigenen Verfehlungen zu leben, aber ohne diese tiefe Erfahrung, überhaupt ein Gewissen zu haben, wäre ich längst zugrunde gegangen, und ich glaube, dass es auch das war, was mich von den anderen unterschied.
Wann auch immer ich in der Kindheit meinen Vater bei seiner Abfahrt verabschiedete, hatte ich es mir angewöhnt, einige Zeit vor ihm zur Station zu gehen und mir genau anzusehen, wie der Zug auf dem dritten Gleis einfuhr und dann allmählich im Bahnhof seinen Platz fand. Je nachdem, aus welcher Richtung der Zug einfuhr, war meine Stadt die erste oder die letzte Station auf der Strecke. An diesem Ablauf hatte sich seit dem 17. Juli 1901 nichts geändert, das war der Tag, an dem hier die Bahnstation eröffnet wurde. Dem Leser, der sich diese Attraktion nicht vorstellen kann, bin ich schuldig, die Geschwindigkeit zu nennen, in der das Ganze vonstatten ging: fünfzehn bis achtzehn Stundenkilometer. Manchmal war dieser Zug bei uns im Ort schon so voll wie eine
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