Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
mich daran erinnere, welche Verlockung für uns Kinder gerade in diesem Risiko lag. Wir spielten mit unserem Leben, mindestens zehnmal wäre ich fast unter die Räder geraten. Aber darüber rede ich nicht so gerne, wenn das Geschenk des Lebens im Glück besteht, überlebt zu haben, wähle ich in dieser Sache irgendwie lieber das Schweigen.
Ich war überzeugt davon, dass es in mir eine innere Macht gab, etwas, das mich beschützte und mir viele Male geholfen hatte, es fügten sich zum Beispiel Dinge in meinem Leben, die ich längst vor meinem inneren Auge als verwirklicht gesehen hatte. Manchmal betraf das dramatische und unangenehme Situationen, aber es gab auch überaus fröhliche Erlebnisse, die das Ergebnis dieser Visionen waren. Auch auf die Gefahr hin, dass es allzu philosophisch oder gar fatalistisch klingt, muss ich dennoch sagen, dass ich kein einziges Mal an die Gleise gegangen bin, ohne mich auf das Unerwartete vorbereitet zu haben. Unser Leben ist ohne Veränderungen nicht möglich, ob wir es wollen oder nicht, wir müssen von der sogenannten Normalität sogar ab und an verstoßen werden. Unser Leben muss sogar aus den Fugen geraten, sonst bleibt immer alles beim Alten.
Viele Male bildete ich mir in meinem Furor auch Dinge ein, ich sah manchmal irgendwelche Luftwirbel, die aus dem Gras strömten, im Gebüsch entdeckte ich flimmerndes Licht, und wenn ich auf die entsprechende Stelle zuging, überzeugt davon, dass dort ein silbernes Halsband oder sonst irgendein Schmuck lag, war entweder überhaupt gar nichts zu sehen oder nur Glassplitter, irgendein anderer banaler Gegenstand, der mich maßlos enttäuschte, aber aufgeben wollte ich deshalb schon lange nicht, weil ich in meiner inneren Logik auch das Banalste als ein Zeichen deutete, das mich zum eigentlichen Schatz führen würde, der selbstverständlich schon längst auf mich wartete. Ich wusste, dass die Natur keine direkten Botschaften übermittelte, man konnte nicht einfach den Arm ausstrecken und direkt nach einem Schatz greifen. Aber sie wies einem natürlich den Weg, gab verschlüsselte Zeichen, die man deuten musste. Mir half dieses Bündnis mit dem Unsichtbaren auch beim Schreiben, weil sich das wirklich Gute erst in der fünften oder sechsten Schicht zeigt. Aber bei den Gleisen war es anders, ich nahm alles in die Hand, was die Leute aus den Zügen warfen, sah es mir an, drehte und wendete es, las auch die rätselhaftesten Botschaften, Sätze fremder Menschen, die auf Durchreise waren und etwas auf irgendwelche Schachteln gekritzelt hatten. Es war mir gleichgültig, dass ich viele Wörter überhaupt nicht verstand, die sie benutzten, denn in meiner Vorstellung waren sie ohnehin nur Wegweiser für das, was später kommen würde, das eigentliche Ereignis wartete noch auf mich. Den Schatz, sagte ich mir im Stillen, den werde ich schon noch finden!
Und dann fand ich in einem kleinen Wald tatsächlich einmal eine Reisetasche. Sie war mit Blättern und Ästen überdeckt. Ich würde sagen, dass sie im Grunde versteckt worden war, aber ich war dort schon tagelang herumgestromert und hatte jeden Winkel in Augenschein genommen, jeden Ast, der dort lag, hatte ich hochgehoben, sogar die einzelnen Steinchen hatte ich untersucht. Ich hatte kein konkretes Ziel, und genau das hat mir am Ende geholfen. Die Tasche war sehr schwer. Deshalb bekam ich Angst, dass nur Plunder oder gar Munition drin sein könnten. Außerdem war Nachkriegszeit, überall fand man Überreste von Waffen. Einige meiner Freunde kamen ums Leben, weil sie mit Bomben spielten, und einer meiner Cousins hat das Augenlicht verloren, weil er im Garten eine Tüte ausgeschüttet hatte, in der sich Schießpulver befand. Meine Mutter hatte mir sehr intensiv eingetrichtert, dass mich Gott nie beschützen würde, wenn ich es nicht alleine tat, deshalb war ich zwar immer sehr achtsam, aber nicht ängstlich.
Als Erstes schleppte ich die Tasche etwas tiefer in den Wald hinein, entfernte mich absichtlich vom Weg, fand einen Unterschlupf hinter einem großen Gebüsch, versteckte mich unter den Ästen und machte sie auf. Die Tasche hatte einen metallenen Reißverschluss, der schwer zu öffnen war, er war verrostet, deshalb versuchte ich, mit meiner Spucke nachzuhelfen. Die Tasche kam mir merkwürdig aufgeplustert vor. Als ich sie öffnete, war ich sehr aufgeregt, starb fast vor Angst, und bei jedem weiteren Geräusch zuckte ich heftig zusammen. Angst zieht nun einmal naturgemäß andere Ängste nach sich.
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