Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Ein Blatt fällt zu Boden, ein trockenes Ästchen, und du denkst, du stirbst, ein Specht, der an einem Stück Holz pickt, eine Wachtel, die auffliegt, werden zur Gefahr, auch der Wind ist ein Feind, der durch das trockene Gras fährt, und all das scheint nur deshalb zu geschehen, damit du Gänsehaut bekommst und die Angst sich über deine Freude legt, ausgerechnet jetzt, da deine offensichtlichen Träumereien endlich greifbare Wirklichkeit geworden sind.
Die Tasche gefunden zu haben erfüllte mich mit Stolz, selbst wenn es nicht der große Schatz sein sollte, sagte ich mir, war es immerhin eine ansehnliche Beute – was immer einem Bettler in die Arme fällt, kann ihn nur reicher machen.
Der Reißverschluss ließ sich nicht öffnen; als ich es dennoch immer wieder versuchte, blieb er hängen und die übervolle Tasche bekam einen Riss. Ein rundes Bündel fiel heraus. Eine zusammengewickelte silberne Tischdecke, fest verknotet. Als ich den Knoten löste und die festlich wirkende Tischdecke befreite, sah ich, dass sie sich für große Tische in feierlichen Räumlichkeiten eignete. An den Stoff-Enden war die Tischdecke sogar mit goldenen Fäden ausgefranst. Sie musste sehr wertvoll sein! Mutter würde sicher daraus ein schönes Kleidungsstück schneidern können. Ich sah mir alles sehr genau an, legte es ordentlich zur Seite und wollte später alles wieder so zusammenschnüren, wie ich es in der Tasche vorgefunden hatte. Dann entdeckte ich noch mehrere Garnknäuel, zwei Schachteln getrockneter Datteln und einen eigenartig bemalten Fächer. Ich fand auch mir völlig unbekannte Sachen, Dinge, die ich noch nie gesehen hatte. Meine Lehrerin erklärte mir später, wie sie im Einzelnen hießen und dass eins dieser wunderlichen Gegenstände ein Monokel mit Galerie sei. Man benutzte es, sagte sie, nur für ein Auge, und das vor allem dann, wenn man etwas von oben betrachten wollte. Ein Requisit also, das in der besseren Gesellschaft, bei herrschaftlichen Leuten, in den richtigen Händen war.
Am meisten an dem ganzen Haufen irritierte mich eine komische Bocchia-Kugel. Sie war kleiner als die normalen Spielkugeln, die ich kannte. Warum hatte bloß jemand so etwas Schweres mit sich herumgetragen? Und wie war diese Kugel zu allen anderen Gegenständen in dieser Tasche geraten, die sich so grundsätzlich von ihr unterschieden? Ich kratzte ein bisschen an der Oberfläche der Kugel, legte sie an mein Ohr, um zu hören, ob Geräusche aus ihr kamen, wusste aber selbst nicht, warum ich das tat, warf sie dann den Abhang hinunter und sah zu, wie sie in einen Graben rollte. Dann aber kam endlich die Entdeckung des Wesentlichen!
In einem anderen Bündel befand sich Frauenkosmetik, in einer Pomadeschachtel entdeckte ich ein wunderschönes Goldarmband. Erst als das Gold in meinen Händen zu leuchten begann, bekam ich es mit der Angst zu tun, denn plötzlich fühlte ich mich wie ein richtiger Räuber. Ich verzog mich noch mehr hinters Gebüsch, kroch tiefer unter die Äste und blieb in meinem Versteck, bis es Abend wurde. Mit der Tasche konnte ich untertags auf keinen Fall in der Stadt aufkreuzen. Ich hätte lügen müssen, man hätte mir Fragen gestellt, die ich nicht hätte beantworten können. Alle wussten, dass ich eine solche Tasche nicht besaß. Der wachhabende Polizist, der mich ohnehin schon im Visier hatte, hätte sie sicher sofort bemerkt und inspiziert, meine Schultasche hatte er auch schon durchsucht.
Als die erste Dunkelheit aufkam, schlich ich nun doch mit der Tasche in die Stadt. Ich war vorsichtig, rannte und war darauf bedacht, mich immer im Schutz eines Schattens zu bewegen. Es hatte mich auf dem ganzen Weg niemand gesehen, dennoch entschied ich mich dafür, so schnell wie möglich ins Haus zu springen. Ich war außer Atem, wie ein Gejagter, den man verfolgte, ich schloss die Tür ab und legte die Tasche auf den Boden. Die Sachen breitete ich auf dem Tisch aus, nur das Armband hatte ich in meinen Hosentaschen verstaut, ich hatte mir vorgenommen, es erst am Schluss zu zeigen. Ich wusste nicht, ob meine Mutter nicht vielleicht von meiner Beute enttäuscht sein, noch was sie überhaupt zu dem Ganzen sagen würde. Aber sie freute sich sehr über die silberne Tischdecke, wir breiteten sie aus und staunten über ihre Größe. Fasziniert berührten wir die goldenen Fransen mit unseren Fingerkuppen. Wir sahen uns die gesamte Beute in aller Ruhe an. Es waren auch Dinge darunter, mit denen wir überhaupt nichts anzufangen
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