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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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wussten.
    Wir atmeten durch, beruhigten uns ein bisschen und aßen die trockenen Datteln. Wir waren ein wenig traurig, dass nicht die eine oder andere Kostbarkeit in der Tasche zu finden war, aber nützlich waren die Sachen allemal, es waren sogar ein paar wohlduftende Seifen darunter, eine ganze Sammlung von Knöpfen aller Größen und ein kleines Kissen mit verschiedenen Nähnadeln. Dann zeigte ich die eigentliche Überraschung vor und holte das goldene Armband heraus. Mutter und ich waren der Meinung, dass es sich gelohnt hatte, einen Tag lang die Schule zu schwänzen, und dass ich mich im Gebüsch versteckt hatte, fand meine Mutter genauso wichtig. Wir versprachen einander, mit niemandem über das goldene Armband zu sprechen, und wollten es auch Vater verheimlichen. Würden wir eines Tages gezwungen sein, es zu verkaufen, dann sicher nur aus Not. Mutter sagte, Gold sei in der Regel an jenen Plätzen am sichersten, die gar keine richtigen Verstecke waren, man müsse es deshalb immer dort ablegen, wo es niemand vermuten würde. Sie schlug vor, dass wir das Armband in die kleine Schublade ihrer Singer-Nähmaschine legten, einfach zu Metermaß, Nadelkissen und Garn. Mit einem Tüchlein bedeckten wir schließlich diese Kostbarkeit.
    Bevor wir das Armband versteckten, waren wir ausgelassen und fröhlich, völlig unerwartet hatte ein Hauch von Reichtum unser Haus heimgesucht. Besitz kann etwas Schönes sein, weil er Geschenke möglich macht. Feierlich überreichte ich meiner Mutter das Armband und schob es ihr auch über das Handgelenk. Wir starrten beide das Gold an und waren sehr beeindruckt. Aber da es uns nicht wirklich gehörte, überkam uns mit dem Glück auch Sorge, denn wir wussten ja, dass alles, was wir nicht mit unseren eigenen Händen verdienten, uns auch wieder genommen werden könnte. Und noch als wir über die Schönheit unserer neuen Errungenschaft staunten, klopfte es an der Tür. Wir erstarrten vor Angst. Mutter nahm schnell das Armband ab, mit ungeschickten Fingern half ich ihr dabei und es gelang uns gerade noch rechtzeitig, das Armband in der Nähmaschinenschublade zu verstauen. Mutter ging zur Tür und ich sah ihr gespannt nach. Mein Herz klopfte so laut, dass ich das Gefühl hatte, es halle im ganzen Haus wider und jeder könne es hören. Als ich die Stimme meiner Lehrerin hörte, war ich beruhigt. Sie war besorgt wegen mir und fragte meine Mutter, warum ich nicht in der Schule gewesen war. »Ist er krank? Oder hat er sich einfach vor dem Unterricht gedrückt?«
    »Komm herein«, sagte meine Mutter, »ich zeige dir, was er gefunden hat.«
    Die Gegenstände aus der fremden Tasche lagen noch auf dem Esstisch, meine Lehrerin sah sich alles an, ich stand neben ihr und plapperte aufgeregt vor mich hin, erst freute ich mich, bekam dann aber doch noch Angst. Dann fing ich an zu lügen und dachte mir eine Geschichte für das Ganze aus, die auch meine Mutter beeindruckte. Beim Erzählen fiel alles sehr dramatisch aus, denn mir war plötzlich ein Mann in den Sinn gekommen, den ich den Unsichtbaren nannte. Ich sagte zu meiner Lehrerin, er sei es gewesen, der mich zum Gebüsch geleitet und die Anordnung gegeben hätte, mich dort zu verstecken und bis zum Anbruch der Dunkelheit zu bleiben. Die Lehrerin setzte das Monokel auf und erklärte uns, wie man es benutzen musste. Ich schenkte es ihr, zusammen mit dem Fächer. Das Armband verschwiegen wir selbst ihr, was nicht weiter erstaunenswert war, denn hätten wir nur ein Wort darüber verloren, wäre es kein Geheimnis mehr gewesen.
    Wir müssen immer wieder in die eigene Vergangenheit zurückkehren, sie ist immer da, als Teil unserer Ehe, als Teil unserer Silber- und Goldhochzeiten, wir sterben mit ihr, und wenn wir sie nicht mehr zu uns rufen und teilnehmen lassen an den Dingen des Lebens, dann haben wir gar nichts mehr, wir sind am Ende allein, so ist es schon immer gewesen. Ich würde es aber niemals wagen, einen Pakt zu schließen mit einer Idee, von der ich annehmen muss, dass sie einfach keine Rolle spielt. Nein, nie gehen die Dinge für immer verloren, keine unserer Geschichten kann sterben. Wir erinnern uns nicht nur deshalb, um anderen aus unserem Leben zu erzählen, sondern auch, um uns selbst zu zeigen, dass wir fähig sind zurückzublicken. Jedes Mal wenn ich zurückschaue (man erlaube mir diese Perspektive, denn ich bin ein schreibender Mensch), mache ich die Erfahrung, dass meine eigene Gestalt sich mehr und mehr von mir selbst entfernt, wie ein

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