Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
richtig voneinander unterscheiden! Sobald wir etwas verdient haben, nehmen wir uns Saison-Arbeiter, die Wermut, Spitzwegerich, Heidekraut und andere Heilkräuter für uns sammeln. So wie man im reichen Amerika Baumwolle pflücken lässt, so werden wir hier Wermut und Lindenblüten und alles Mögliche pflücken lassen, und über meinen Freund Rubinović werde ich mich um den Verkauf andernorts kümmern, es soll ein richtiger Markt daraus werden. Sie denken, dass wir in zwei Jahren gemachte Leute sind.«
In der ganzen Zeit von Vaters Genesung blieb ich bei ihm und reichte ihm alles, wonach er verlangte. Mutter arbeitete im Gemischtwarenladen, sah aber häufig ins Zimmer hinein, um uns zu besuchen, ich hatte in der Zwischenzeit gleichsam die Stellung eines Arztes inne und Vater war der Patient. Sie wollte sich einen Überblick über meine Behandlungsmethoden verschaffen. Und während ich den Arzt mimte und irgendetwas an sein Ohr hielt, das an ein Stethoskop erinnerte, mich auf Vaters Herzschlag und Lungen konzentrierte, mit zwei Fingern auf seine kranke Brust tippte, packte mich bei einer solchen Gelegenheit Vater hastig am Arm und sagte plötzlich: »Es kommt noch ein Kind zur Welt.«
Zuerst verstand ich die Bedeutung seiner Worte nicht, weil er auch schon früher die Angewohnheit hatte, einfach irgendetwas Kopfloses in den Raum zu werfen, und Mutter und ich versuchten daraufhin immer, das Rätsel in seinen Sätzen zu knacken und ihnen einen Sinn abzugewinnen. »Was denn für ein Kind?«, fragte ich.
»Ein menschliches Wesen, ein Gottesgeschöpf«, sagte er. »Du wirst kein Einzelkind mehr sein. Deine Mutter wird mir einen weiteren Sohn schenken, der mir beistehen wird.«
»Ist sie denn schwanger?«, fragte ich und konnte kaum meine Tränen zurückhalten, Hass stieg in mir hoch, Hass auf beide, vor allem auf Mutter, die es zustande gebracht hatte, mir so etwas zu verschweigen.
»Schwanger ist sie, ja, ja, so könnte man das ungefähr nennen«, sagte Vater. »Man sieht es noch nicht, aber sie ist schon im vierten Monat. Dieses Kind wird alles zwischen uns glätten, alles, was kaputt gegangen ist.«
»Ich werde zwölf Jahre älter als dieses Kind sein«, sagte ich.
»Genau, volle zwölf Jahre und ein paar Tage …«, sagte Vater.
Meine Wut ließ bald nach, auch der Hass, der in jenem Augenblick entstanden war, löste sich auf. Aber dennoch wollte ich Mutter nicht sehen und mir ihre Erklärungen nicht anhören. Und wenn das Kind dann da wäre, beschloss ich, würde ich ihm gelassen gegenübertreten. Ich werde ihm nicht schaden, sagte ich mir in einem langen Selbstgespräch, ich werde es nicht vergiften, aber ich werde es auch nicht verwöhnen, es nicht in seiner Wiege schaukeln, ich werde auch nicht seine Windeln wechseln, sie nicht waschen und draußen zum Trocknen aufhängen, ich werde ihm natürlich keine Fragen stellen, ich werde ihn auch Mutter nicht reichen, damit sie ihm die Brust geben konnte, nein, ich werde mir nicht ansehen, wie es auch noch schmatzt und mit dem Mund nach der Mutterbrust lechzt, sich ihre Milch hastig einverleibt, dann vielleicht auch noch aufstößt und alles wieder ausspuckt. Das würde ich alles nicht ertragen können! Ich selbst war bis zu meinem fünften Lebensjahr gestillt worden, was Mutter meinem Vater verheimlicht hat. Keiner meiner Freunde wusste es, es war ein Geheimnis, manchmal zog ich einfach meine Mutter, wenn wir unterwegs waren, in irgendeine Ecke, wo es schön dunkel war, auch in den Stall oder hinter die Scheune. Ihre Brust war schon längst milchlos, Trost gab mir das trotzdem. Und jetzt sollte ich mit ansehen müssen, wie der gleiche Trost einfach von heute auf morgen einem anderen zuteil wurde? Nur weil auch er aus dem gleichen Mutterbauch gekommen war wie ich?
30
Als ich erfuhr, dass meine Mutter schwanger war und ein zweites Kind erwartete, verließ ich das Haus fluchtartig und verbrachte den ganzen Tag am Fluss. Und am Abend kroch ich durch den Schulzaun hindurch und versteckte mich in der Holzkammer. Dort blieb ich etwa eine halbe Stunde, ich wollte sicherstellen, dass niemand in der Nähe der Lehrerinnenwohnung war. Sie lebte in einem ebenerdigen Steinhaus mit zwei Eingängen. Es brannte Licht bei ihr, mein Atem blieb stehen, denn bei der Lehrerin durfte man nicht einfach so unangemeldet hereinplatzen, schon gar nicht am Abend, wenn sie schon die Tür abgeschlossen und die Vorhänge zugezogen hatte, um sich in erster Linie vor den neugierigen Blicken
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