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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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geführt hätte, bereit gewesen, ihn zu beschimpfen und ihm ins Gesicht zu sagen, dass die türkischen Zeiten ein für alle Mal vorbei waren. Aber dieser Mann hatte nur gute Absichten, er wollte nur meiner Mutter helfen, die sich auf der Zugfahrt nun mal nicht wohlfühlte. Danach sprach mein Vater in einem freundschaftlichen Ton mit dem Mann, es stellte sich heraus, dass er der Enkel des Selim-Bey Musović war. Sie redeten eine Weile angeregt und freundlich miteinander. Ich sehe es noch vor mir, wie mein Vater genüsslich an seiner Zigarette zog, dabei zur Zugdecke schaute, zu der seine bläulichen Rauchkringel fortschwebten und sich in der Luft auflösten. Selbstbewusst redete er mit dem anderen, sein Ton hatte etwas von einer staatlichen Autorität, als er sagte, dass der Fes genauso wie die montenegrinischen Kappen oder die Trachtenkleidung nur von jenen Leuten getragen wurden, die sich den neuen Zeiten verwehrten, ja die sich aufführten, als sei ihnen das Neue mit Gewalt aufgezwungen worden. Der Enkel des Selim-Bey lachte bitterlich auf und drehte mit geschickten Fingern seine Zigarette.
    »Neue Zeiten«, sagte er und leckte mit der Zunge über das Papier, »es gibt keine neuen Zeiten.«
    Es gab noch einige schöne Momente, in denen mein Vater diesem Mann zugeneigt war, und wir versuchten, es ihm gleichzutun. Vaters Freundlichkeit bedeutete uns viel, sie kam uns eigentlich vor wie ein Geschenk Gottes, deswegen versuchten wir damals wie nie zuvor, es ihm in allem recht zu machen. Das eine oder andere Mal kamen wir deshalb auch in Versuchung, ihm die Sache mit dem Armband anzuvertrauen, aber es war uns klar, dass dies nicht gut war und dass Mutter und ich dadurch etwas verloren hätten, eine Sache, die nur uns verband. Wir entschieden uns für das Geheimnis und damit auch für eine bestimmte Art von Treue und Verlässlichkeit. Wenn es sich um einen besonderen Reichtum gehandelt hätte, um kostbaren Schmuck oder einen richtigen Schatz, dann hätten wir Vater sicherlich alles erzählt und es ihm auch überlassen, was damit zu tun war, aber so etwas konnte damals nur in der Fantasie vorkommen. Der Gedanke war jenseits aller Wirklichkeit.

35
     
    Glückliche Zeiten währen nicht ewig, auch unser stilles Glück hielt nur ein paar Wochen. Aber Mutter und ich erinnern uns gerne an jene Tage, in denen alles von Bedeutung war, deswegen klagen wir nicht, wir wissen, dass es schon viel ist, das Glück auch nur kurz gekannt zu haben. Selbst wenn eine Reihe von unglücklichen und tragischen Geschehnissen das Leben bestimmt, gibt es letzten Endes immer etwas, das Hoffnung schenkt. So ist es schon immer gewesen, und wir waren da nichts Besonderes, alle Menschen sind den Umständen ihres Lebens ausgeliefert, es spielt fast keine Rolle, worum es sich im Einzelnen eigentlich handelt.
    Es war nicht leicht für uns, Vaters betrunkene Stimme wieder zu hören, er sang sein Lieblingslied, das er immer vor sich hinträllerte, ganz egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, sobald er aus der Gaststube getreten war, nach einer durchzechten Nacht, auf dem Weg nach Hause, manchmal alleine, manchmal mit der Hilfe eines anderen. Wir begriffen, dass etwas unwiederbringlich verloren und unsere Vorstellung von einem glücklichen Leben wie eine Seifenblase zerplatzt war. Es ging schnell, es reichte aus, dass Vater sich an einem Nachmittag von uns entfernte, dass wir dorthin zurückkamen, wo unsere Illusionen gewachsen waren, an jenen Platz, an dem die alte Verlorenheit ihre Heimat gefunden hatte.
    Es blieb uns nachts wieder nichts anderes übrig, als erneut Vaters rauer und weit entfernter Stimme zuzuhören, zuerst war sie so weit entfernt, dass wir sie kaum hörten. Aber mit reflexartiger Leichtigkeit erkannten wir schließlich, dass es sich um seine Stimme handelte, denn dieses Lied hätte unmöglich ein anderer als er selbst singen können. Auch später hörten wir dieses Lied nie aus einem anderen Mund, sodass wir immer mit Sicherheit sagen konnten, dass es sich ganz und gar um sein Lied handelte, er hatte es sich von der Seele geschrieben und er sang es auf seine ureigene Weise. Aber Vaters Lied war auch unser Lied, denn sobald wir ihn am Ende der Straße vernahmen, sangen auch Mutter und ich die Zeilen leise vor uns hin, einfach aus Lust, wie ein Duett, das den Hauptsänger begleitet, bis er selbst irgendwann nach vorne vor sein Publikum trat. Je näher er kam, desto lauter sang er und wir wurden dabei immer leiser. Es war unser

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