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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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einfach fünfmal hintereinander und meiner Mutter las ich es sogar einmal laut vor. Manchmal kehre ich noch heute zu diesem Buch zurück, aber ohnehin lese ich Tolstoi in aller Regelmäßigkeit. Und wieder bin ich derjenige, der seine Sätze einer von mir geliebten Person laut vorliest.

36
     
    Als ich Vijorsa das Geld brachte, betrat ich zum ersten Mal ihren Salon. Eine junge und schöne Friseurin brachte mich zum Zimmer der Chefin im ersten Stock, sie lag auf einem breiten Bett, die Seidenbettwäsche leuchtete rosa. Vijorsa war leicht bedeckt, aber überhaupt nicht schamvoll, ihr Hauskleid hatte das gleiche Blümchenmuster wie ihre Kissen und Bettlaken. Sie hatte ihr Gesicht eingecremt, auf die Stirn hatte sie sich lauter Obstscheiben gelegt. Zwei schwarze Augen starrten aus diesem sonst so weißen Gesicht hervor. Sie klopfte leicht mit ihrer Hand auf das Bett und gab mir damit das Zeichen, mich neben sie zu setzen. Sie forderte mich auf, das mitgebrachte Geld zu zählen, was ich auch machte.
    »Das genügt, die Schulden sind beglichen«, sagte sie.
    »Darf ich fragen, was er für diese Summe bekommen hat?«, fragte ich ernsthaft, war bemüht um den Ton eines Familienoberhaupts, so als sei ich für Vater zuständig.
    »Nichts«, sagte sie, »aber wir haben miteinander gesprochen.«
    Vijorsa zeigte mit der Hand auf ihren Nachttisch, auf dem ein Grammophon stand, sie hob den Heber an und legte ihn auf die Platte. Wir hörten eine leise und angenehme Musik, die ich schon aus Filmen kannte. Vijorsa bewegte ihren Zeigefinger im Takt der Musik.
    »Das ist mein Lieblingslied, es handelt von einem ersten Kuss«, sagte sie. »Hast du schon einmal ein Mädchen auf den Mund geküsst?«, fragte sie mich.
    »Nein, habe ich nicht.«
    Sie zog mich heftig an sich, und mit ihren vollen geschminkten Lippen küsste sie mich mitten auf den Mund, ich bekam keine Luft und versuchte mich ihrer Umarmung zu entreißen, dabei fiel ihr das Obst vom Gesicht und landete auf den Kissen. Irgendeine merkwürdige Flüssigkeit floss in Richtung ihres Kinns und bewegte sich weiter zum Hals und zu ihren Brüsten. Auf den Lippen spürte ich noch immer ihren Atem und roch den Duft der Creme. »Sobald du etwas größer geworden bist, bekommst du noch ein paar Stunden in meiner Schule gratis geschenkt, Lebensstunden, verstehst du? Denn ohne die Kenntnis dieser Dinge wirst du es im Leben nicht weit bringen – nicht nur wegen des Nachwuchses, die Liebe an sich hängt davon ab. Dein Kleiner ist schon dabei, sich ordentlich aufzubäumen«, sagte sie und legte ihre Hand auf meine Hose. »Du musst ihn in Übung halten, lass den Pfeil ruhig ab und an mal fliegen, das ist gesund«, sagte sie.
    Ich lachte. Es war mir unangenehm. So etwas hatte ich noch nie vorher erlebt. Am Schluss schenkte sie mir einen kleinen Schein und erzählte mir, wie es zu den Schulden meines Vaters gekommen war. Er hatte Vijorsa ein junges Mädchen abgekauft, das etwa fünfzehn Jahre alt war und ursprünglich aus einem der Bergdörfer kam. Mit ihrem Vater und ihrer Mutter lebte sie in einem Zimmer, im ärmlichen Teil der Stadt. Vijorsa hatte sie »von der Straße gerettet« und in ihren Salon eingeführt, zunächst als Bedienung, aber da das Mädchen bildhübsch war, wusste mein Vater, was sie hier noch zu erwarten hatte. Er war sich darüber im Klaren, dass es schwer sein würde, Vijorsa von ihrem Plan abzubringen, aber er versuchte dennoch, sie wenigstens davon zu überzeugen, die junge Frau, die nicht nur schön, sondern auch blitzgescheit war, noch zur Schule gehen zu lassen. Vielleicht würde sie dann jemand aus der Stadt unter seine Fittiche nehmen, sagte mein Vater zu Vijorsa. »Aber es ist wichtig, dass das nicht du bist.« Manchmal müsse man etwas großzügiger sein, auch wenn wir nicht wissen, wohin eine solche Geste einen Menschen bringen wird. In Wirklichkeit könne man aber niemandem helfen, sagte Vijorsa zu mir, als sie mir diese Geschichte erzählte, die ich jetzt als Teil meiner eigenen Erinnerung niederschreibe.
    Als ich in meiner Gegend noch geschätzt wurde, trat ich einmal auf der städtischen Jugendbühne bei einem literarischen Abend auf. Ich erinnere mich an einen Besucher mit lockigem Haar, er kam im Rollstuhl, und wenn mich nicht alles täuscht, hieß er Fahro. Er fragte mich, ob ich ein typisches Bild für diese Region aus meiner Kindheit heraufbeschwören könnte, etwas, das es so nirgendwo anders gebe, und ich erzählte ihm die Geschichte, die sich in

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