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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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geblieben, ob tot oder lebendig, das Geld werde ich in jedem Fall bekommen«, sagte sie.
    Ich ließ sie stehen und zog meinen Vater hinter mir her, legte ihn angezogen auf das Bett, zog ihm nur die Schuhe aus, lockerte ein wenig seinen Gürtel und deckte ihn zu. Danach machte ich das Licht aus. Schnell fing er an zu schnarchen, ein paar Minuten blieb ich noch in der Dunkelheit des Raumes bei ihm stehen, zog dann leise die Tür hinter mir zu und fand mich sehr schnell im Speisezimmer wieder. Dort saß meine Mutter und weinte. Als ich sie umarmte und zu trösten versuchte, sagte sie, sie habe Vaters Schulden für »die Dienste in Vijorsas Salon« bereits beglichen. Vijorsa habe wenigstens auf einer Anzahlung beharrt und sei nicht gewillt gewesen, sich sonst vom Fleck zu rühren. Für Vaters Abenteuer zu bezahlen und das wenige, das wir hatten, für seine beschämenden Ausflüge auszugeben, war schrecklich und brachte uns in noch größere Schwierigkeiten. Es gab keine Möglichkeit, mit ihm darüber zu reden, er hatte uns mit seinem Verhalten für alle Zeiten erniedrigt. Wir fragten uns dennoch, ob wir uns dem Schmerz stellen und alles ansprechen sollten. Wir wussten nicht, was in dieser Situation das Richtige war.
    Mutter war durchaus vernünftig, leider habe ich ihre Eigenart, die Dinge ausklingen zu lassen, nicht auch von ihr geerbt. Sie hatte ein Organ zur Vergebung, und auch das Unverzeihliche konnte sie verzeihen. Aber vielleicht unterscheiden wir uns auch nur in unseren Ansichten und haben ein anderes Verständnis von Vergebung. Ich denke dabei nicht an das, worüber das Christentum sich theoretisch auslässt und in der Praxis nicht lebt, sondern an das, was in allen Menschen angelegt und in der Natur der Dinge gegeben ist. Am nächsten Tag fegten und putzten wir unseren Laden und ich machte Mutter immer wieder Vorwürfe, weil sie Vaters Schulden bei der Prostituierten beglichen hatte. Meine Mutter stützte sich am Besenstiel ab und sagte plötzlich: »Ich bin bereit, alles dafür zu tun, ihn wenigstens ein bisschen glücklich zu sehen. Das mit der Prostituierten ist wirklich peinlich, aber es ist nicht das Böse an sich. Denn dein Vater ist eigentlich ein guter Mensch.«
    Sie hatte auch schon früher immer wieder über solche Dinge gesprochen, es sei leicht, hatte sie gesagt, etwas zu verzeihen, das einem wirklich wehtue. Irgendwann gehe aber jeder Schmerz vorüber und jede Schlechtigkeit könne etwas Gutes werden, aber wenn ein Mensch wirklich etwas Böses in sich trage, selbst dann, wenn er das zu kaschieren versuche, könne man ihm letztlich nicht verzeihen.
    »Heute Morgen hat er weder gejammert noch nach uns gerufen«, sagte ich verschmitzt, »er verzichtet freiwillig auf unsere Verwöhnung. Vielleicht lebt er gar nicht mehr?«
    »Sei still! Wie kannst du so über deinen Vater reden? Los, geh zu ihm hinauf«, sagte meine Mutter und fügte an: »Ein neuer Tag, ein neues Leben.«
    Ich nahm einen Krug in die Hand, füllte ihn mit Wasser, mit der Absicht, es in sein Gesicht zu schütten. Das sollte meine Rache dafür sein, dass wir das vom Mund Abgesparte der Salonbesitzerin hatten geben müssen. Aber er war gar nicht im Zimmer und lag gar nicht im Bett. Er war einfach verschwunden. Auf dem Tisch fand ich ein Bündel Scheine und eine Nachricht für uns, geschrieben in der Handschrift eines unordentlichen Menschen, dessen Hand zudem noch vom Rausch zitterte. Wie wenig war doch von seiner schönen Schrift übrig geblieben! »Ich nehme den frühen Bus nach Dubrovnik, muss Besorgungen machen, habe ein wichtiges Geschäftsgespräch in Sachen Heilkräuter. Ich bin Vijorsa etwas schuldig geblieben, es ist nicht das, was ihr denkt, ich werde es euch erklären, bringt ihr die Hälfte dieser Summe in den Salon, damit sind wir quitt. Das Geld habe ich von einem Schuldner bekommen. In ein, zwei Tagen bin ich wieder bei euch.«
    Für mich hatte er ein Buch auf den Tisch gelegt, es hatte einen blauen Umschlag, mit festem Einband, auf dem in goldenen Buchstaben ein T eingestanzt war. Das stand für Tolstois Roman »Hadschi Murat«, das fünfte Buch aus Tolstois gesammelten Werken von insgesamt dreißig Büchern, es war eine Belgrader Ausgabe aus dem Jahre 1933. Dies war der erste Roman, den ich gelesen habe, es gab keine anderen Bücher, in der Schulbücherei gab es nur Bücher über das Pflanzen- und Tierreich, auch Atlanten, alte schmutzige Schulbücher – allesamt Werke von Lenin und Stalin. Deswegen las ich dieses Buch

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