Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
mich. Plötzlich beugte sie ihr Gesicht an mein Ohr, es war heiß, ihr Atem so verlockend, sie sagte, das sei alles sehr wichtig und nützlich für mich, ich würde jetzt eine selbstverantwortliche Person werden, und irgendwann würde meine ganze Geschichte einen Titel tragen und so etwas wie Vatersuche heißen. Beim Abschied steckte sie mir ein paar Dinar zu. Ich sollte mich in der Stadt verwöhnen, es war so viel, dass es auch für einen Erwachsenen gereicht hätte.
»Such dir ein schönes Restaurant aus und iss dort wie ein richtiger Herr«, sagte sie.
Als der Zug anfuhr, blieb sie am Gleis stehen. Wer würde sich so etwas nicht gemerkt haben? Die Leute drängelten beim Betreten des Zuges. Ich war geschickt und schnell, bewegte mich flink zwischen den vielen Körpern. Der Eisenbahnwärter sah uns behäbig an, in der Hand hielt er einen Lautsprecher und schreckte nicht davor zurück, uns als Viehherde zu beschimpfen. Aber die Leute versuchten nur, zu ihren rechtmäßigen Plätzen zu kommen, die sie reserviert hatten, sie wollten einfach nur ans Ziel kommen und ihre Erledigungen hinter sich bringen. Der Eisenbahnwärter schrie immer wieder, er werde »das kopflose Vieh ohne ordentliche Fahrkarte« sofort aus dem Zug schmeißen. Aber niemand achtete auf ihn und seine Beleidigungen oder sah sich gezwungen, ihm auf die gleiche Art zu antworten. Vielmehr fügten wir uns dieser brachialen Lieblosigkeit, wahrscheinlich weil wir uns durch seine Erniedrigungen tatsächlich wie etwas Niederes empfanden.
Immer wenn ich mit dem kleinen Zug reiste, erzählte man sich unter den Leuten, dass man ihn bald abschaffen würde. Jedes Mal versetzte mich das in eine tiefe Trauer, deswegen saß ich immer im Coupé mit dem Gesicht ans Fenster gelehnt und sann darüber nach, wie sehr mir die vorbeihuschende Landschaft fehlen und wie stark ich eines Tages von der Nostalgie dieses Verlustes erfasst werden würde. In diesem Zug fühlte ich mich überaus glücklich, selbst dann, wenn ich mit Sorgen reiste oder in einer schwierigen Situation war, wie etwa damals, als man mich bestohlen hatte oder als mir ein paar Gassenbuben meine Trillerpfeife abgenommen und sie aus dem Fenster geworfen hatten. Aber die schönen Augenblicke überwogen in allem, besonders auf den Rückreisen aus Dubrovnik. Wir kamen immer mit Taschen voller Bonbons zurück, am Strand hatten wir verschiedenfarbige Steinchen und Muscheln gesammelt. Im Zug gab es immer etwas Kleines zu knabbern, drei, vier Kinder waren wir und einander treue Kameraden, wir wussten, dass der kleine Zug uns zusammengebracht und Reiselustige aus uns gemacht hatte, die diesen Zug Fahrt für Fahrt immer öfter ihr Zuhause nannten. Mit vollem Genuss lehnten wir uns aus den Fenstern, ja wir hingen förmlich aus ihnen heraus. Wir wollten den Anordnungen zuwiderhandeln, die auf den Metalltafeln angebracht waren und auf denen stand: »Nicht aus dem Fenster lehnen«. Recht besehen versuchten wir, immer genau das Gegenteil von dem zu machen, was die Regeln von uns erwarteten. Dass man die Tür bei einem fahrenden Zug nicht öffnen sollte, interessierte uns überhaupt nicht, regelmäßig sprangen wir auch aus dem Zug heraus. Alles in allem waren wir fröhliche Reisende, für uns sind das schönste Tage geblieben, über die wir uns noch immer etwas zu erzählen haben. Wir legten eine Leichtigkeit an den Tag, die uns den Schwierigkeiten mit einem Lächeln entgegentreten ließ.
Als mein Zug an der Haltestelle Gruž ankam, machte ich mich nicht gleich auf die Suche nach meinem Vater. Ich trieb mich noch ein bisschen auf dem Bahnhofsgelände herum, ging zur Toilette und kam wieder zum Gleis zurück. Es war niemand zu sehen, nur die eine oder andere Schwalbe war da, das war alles. In der Stille hörte man plötzlich das Geräusch eines Maschinentelegrafen. Ich liebte diesen Klang, durch das geöffnete Fenster drangen nun die Funkgeräusche zu mir, und ich trat zum Fenster und sah die langsamen Bewegungen des Papiers, sah, wie es nach oben gezogen wurde und wieder auf den Boden fiel.
Aber eigentlich war ich sehr verwirrt, denn ich wusste gar nicht, wohin ich nun gehen sollte. Ich konnte die Straßenbahn Nummer 1 bis zur Station Labad nehmen, dort musste man in die Nummer 2 umsteigen in Richtung Pile-Labad-Bucht, da hätte ich bis zur vorletzten Station fahren müssen, ganz in der Nähe wohnte auch der Großhändler Ljubo Maras. Er wusste mit Sicherheit, was mit meinem Vater los war. Meine Mutter hatte einmal den
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