Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
gemeinschaftlicher Augenblick, mit dem wir uns wohl das Schreckliche vom Leib zu halten versuchten, vielleicht wollten wir aber auch einfach nur Vater in seiner Fröhlichkeit unterstützen, denn er kam nicht schlecht gelaunt nach Hause, im Gegenteil. Mutter aber empfand das Lied als reinen Schmerz, der auch auf unser Gemüt drückte:
     
Trinke ich mit meinen Freunden, oh Mutter
Dann höre ich manche schwören
Die einen bei ihrem Dorf, die anderen bei ihrem Bruder
Ich aber habe nichts und niemanden
Nichts worauf ich schwören könnte
Nur meine zerschnittene Seele
Gehört mir allein.
    An jenem Abend begleitete ihn Vijorsa, die Besitzerin des Schönheitssalons, der Mehr Schönheit hieß, offiziell benutzte man diese Bezeichnung für ein inoffizielles Bordell. Dieser Salon war noch vor dem Krieg eine Art Tabu, und die Kommunisten machten mit dieser Tradition »unter dem Siegel der Verschwiegenheit« weiter, ohne dass jemand hätte sagen können, warum das so war. Der Salon wurde 1937 eröffnet, als ein gewisser Luka in die Heimatstadt seines Vaters Mirko Cvjetković zurückkehrte, der einst ein wohlhabender Händler gewesen war. Luka war Segler und Schwimmer, er nahm sogar an der Weltmeisterschaft 1926 in Budapest teil. Er selbst hatte nie in der Stadt seines Vaters gelebt, weil er in Herceg Novi geboren war. Mit ihm im Schlepptau kam die schöne Vijorsa – mit einem Busen, wie man ihn an diesem Ort noch nie zuvor gesehen hatte. Aller Liebe zum Trotz wurde sie Salonbesitzerin und bewies einen ausgezeichneten Sinn fürs Geschäftliche. Über ihr Etablissement wurde allerdings mehr gesprochen, als dass man in ihm irgendetwas praktiziert hätte, das der Schönheit zuträglich gewesen wäre.
    Der Salon hatte jeweils eine Friseurabteilung für Männer und für Frauen, im hinteren Bereich befanden sich die Plätze für Massagen und eine Treppe führte nach unten zum Club. Es wurde nicht jeder vorgelassen, die Leute wurden sogar überprüft und die Getränke waren sehr teuer. Von den anderen Dienstleistungen wagte kaum jemand zu sprechen. Zwei Jahre nach der Eröffnung des Salons starb Luka allem Anschein nach an gebrochenem Herzen, aber das wirkte sich nicht im Geringsten auf das Florieren des Geschäftes aus. Vijorsa sorgte Tag für Tag dafür, dass es wie von einem mythischen Fluidum umgeben zu sein schien. Der Salon erlebte seine Blütezeit unter der italienischen Besatzung, man hatte ihm damals den Namen »Heiligennahrung« gegeben. Und Vijorsa ist mit Sicherheit die einzige Person, die von den Kommunisten eine Auszeichnung für eine ganz besondere »Zusammenarbeit mit dem Operator« erhielt, sodass sie auch nach dem Krieg einfach mit dem weitermachte, was sie auch bisher getan hatte. Nur genoss sie jetzt einen ganz besonderen staatlichen Schutz und war unantastbar. Und wenn irgendein Dummkopf sich über den Salon ausließ, fand man ihn schon am nächsten Tag am Ufer des Flusses, verprügelt, entstellt, nicht einmal die eigene Mutter hätte ihn erkannt. Recht besehen war Vijorsa für alle ein Rätsel, ja eigentlich ein großes Mysterium. Obwohl sie schon vom Alter gezeichnet war, strahlte sie eine ganz besondere Schönheit aus. Ihr Ruhm hielt sich in unserer Stadt bis zu den sechziger Jahren, dann verschwand sie plötzlich und niemand hörte je wieder etwas von ihr. Und jetzt, da ich über Vijorsa und ihren Salon schreibe, fühle ich Zuneigung und Wärme für sie, dennoch ist es rätselhaft für mich, dass meine Hand dabei zu zittern anfängt.
    Als sie mir Vater übergab, streichelte sie ihn und betrachtete mich durch ihre dichten geschminkten Wimpern. Es hatte Mühe gemacht, ihn zum Haus zu begleiten. Ihr Blick hatte etwas Sehnsüchtiges, aber nicht auf eine animalisch erotische Weise, vielmehr lag in ihm eine unerträgliche Schwermut, vielleicht hatte sie damals schon gewusst, dass ihre Zeit hier abgelaufen war, dass das Alter sie gezeichnet hatte, die Jahre allzu schnell verflogen waren, aber in allem überwog ihre praktische Seite, der Sinn für den Alltag, das Wissen darum, dass man als Mensch letzten Endes einen knurrenden Magen hat. Sie war sich darüber im Klaren, dass die Vergänglichkeit und das Leben im Hier und Jetzt zueinander gehörten.
    »Schau einer an, wie groß du geworden bist, noch ein bisschen, da kannst du schon zur Kundschaft in meinem Salon gehören, du wärest natürlich bessere Kundschaft als dein Vater«, sagte sie und strich mit ihrem Zeigefinger über meinen Mund. »Er ist mir etwas schuldig

Weitere Kostenlose Bücher