Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Vijorsas Salon ereignet hatte. Die Leute hörten aufmerksam zu, einige lachten, als ich Vijorsas Lippenkenntnisse beschrieb, und es stellte sich heraus, dass von den Anwesenden selbst meine Altersgenossen keine Ahnung von diesem Salon hatten und niemand ahnte, dass es so etwas in unserer Stadt gegeben hatte. Anderntags machten sich alle auf die Suche nach einem solchen Etablissement, die Alten wurden befragt, man bedrängte sie, über Vijorsa zu erzählen, aber niemand konnte sich an sie erinnern. Es war, als sei ein ganzer Zeitkanal einfach im Nichts verschwunden. Und als ich mich im Konflikt mit den Menschen meiner Region befand, weil sie sich durch meine Bücher allenthalben provoziert fühlten, nahmen sie genau dieses Detail auf und wendeten es so lange, bis sie es gegen mich verwenden konnten. Sie sagten, an diesem Beispiel könne man genau sehen, wie ich meine Geschichten verdrehe und die ganze Gegend meiner Herkunft meinen Lügengebilden unterwerfe, dabei aber alles nur erfinde. Unter dem Druck, meine Poetik verteidigen zu müssen, schrieb ich, dass meine Topographie selbstverständlich abstrakt ist, mein inneres Inferno nicht einmal an den Echoraum meiner Geburtsstadt heranreiche. Ich vertrat die These, dass alles, was ein Schriftsteller niederschreibt, sich erst dann in Literatur verwandelt, wenn es zur Fiktion wird, und dass die sogenannte Wirklichkeit auf diese Weise erst in der Fiktion einen Sinn machen kann. Ein »frei denkender« Kritiker ließ mich wissen, dass meine Worte eine Art »Asche-Ausstreuung« seien und sich »der chinesischen Kulturrevolution würdig« erwiesen hätten.
Doch zurück zu meinem Vater – er kam nicht wie angekündigt nach Hause, er blieb nicht ein, zwei Tage weg, er ließ sich zehn Tage lang nicht blicken und auch nichts von sich hören. Die Waren trafen nicht ein, aber diese Fluchten waren uns nicht unbekannt, wir machten uns nicht einmal Sorgen um ihn. Manchmal machten wir ein paar Witze über ihn, sagten Sätze wie »vielleicht hat ihn jemand ins Meer gestoßen«, oder »jemand hat ihm bestimmt was auf den Kopf gegeben und man hat ihn ausgeraubt«, »wer weiß, vielleicht ist er längst verheiratet und lebt mit irgendeiner Witwe zusammen«. Und doch war dieses Mal etwas anders, Mutter und ich beratschlagten, was zu tun sei, und beschlossen gemeinsam, dass ich eiligst nach Dubrovnik reisen, ihn finden und auf gar keinen Fall ohne ihn nach Hause zurückkommen sollte. In der Zwischenzeit hatten wir schon zum zweiten Mal die Aufforderung der Gemeinde erhalten, dass Vater vorstellig werden und einen Fragebogen ausfüllen müsse, wie dies alle Händler schon getan hatten. Man bat ihn, seine Papiere mitzubringen, den Nachweis, der ihm den Handel mit Einzelwaren erlaubte. Außerdem war es in der Zwischenzeit zu einer Hygieneinspektion gekommen und man verlangte, dass wir Klebestreifen am Plafond anbrachten, wegen der überhandnehmenden Fliegen. Aber solche Klebestreifen hatten wir überhaupt nicht. Alles, was wir hatten, waren kleine Kartons, in deren Mitte sich kleine Teller mit Zuckerwasser befanden. So hatten wir die Fliegen bisher immer gefangen, die sofort im Zuckerwasser ertranken, aber so effektiv wie die Klebestreifen war diese Lösung bestimmt keineswegs. Wir versuchten den Beamten unsere Kartonlösung schmackhaft zu machen, aber sie ließen nicht mit sich reden, sagten, sie akzeptierten nur die hängenden Klebestreifen.
Am Abend kam auch die Lehrerin vorbei, sie war besorgt und sagte, dass die neuen Behörden keinen Spaß verstünden, dass man schon einige Banker, Industrielle und Großhändler hinter Gitter gebracht hätte, man würde sie wie Ausbeuter behandeln, wie Reiche, die »auf dem Rücken der Arbeiter und Bauern« zu ihrem Geld gekommen waren, ihr Hab und Gut werde konfisziert. Und wenn mein Vater nichts von sich hören ließe, würde man ihn umso mehr verdächtigen und davon ausgehen, dass er etwas zu verbergen habe und sich dem Gesetz entziehen wolle. Es sei nichts leichter, als diesen Verdacht auf sich zu ziehen und so ins Blickfeld des Staates zu geraten. Meine Lehrerin sagte, ich müsste mich sofort auf den Weg zum Bahnhof machen, eine Karte kaufen, denn der Morgenzug sei übervoll, vor allem montags, da gebe es so gut wie nie einen Platz, und auf den Dächern der Waggons zu liegen sei neuerdings verboten, das sei nicht mehr so wie in den ersten Jahren nach dem Krieg, man führe eine Art Ordnung ein und es sei auch schon die Rede von Preiserhöhungen und
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