Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
nötigen Reservierungen. Der einstige Direktor der Österreichischen Eisenbahnlinie Nöderling, der wegen der Konfiszierung des Terrains die Entscheidung getroffen hatte, schmal verlaufende Eisenbahnschienen zu verlegen, hätte es sich nicht träumen lassen, dass es eines Tages so viele Zugreisende geben könnte.
Ich rannte zur Bahnstation, um mir eine Karte für den frühen Zug zu kaufen, in der Regel fuhr er um 6.45 Uhr, häufig aber war er verspätet, der Grund dafür waren Arbeiten an den Schienen und Sabotage. Als ich zur Kasse vortrat, sagte mir der Beamte, ich hätte keinen Anspruch mehr auf einen Nachlass. Ich sei nun aus dem Alter heraus, indem ich fünfzig Prozent weniger zahlen durfte, dies gelte nur noch für Kinder bis elf Jahre. »Aber ich bin doch elf Jahre alt«, sagte ich. »Nein, das bist du nicht, warum lügst du, ich weiß doch, aus welcher Familie du bist, du bist zur gleichen Zeit wie mein Sohn zur Welt gekommen, und das war vor genau zwölf Jahren«, sagte er. »Und was wäre, wenn du mich gar nicht kennen würdest?«, fragte ich.
Mager war ich nicht mehr und ich wuchs wirklich sehr schnell, mein Alter konnte ich nicht mehr verbergen, gestern noch war ich mit dem Nachlass gereist. Ich zahlte den vollen Fahrkartenpreis und der Kassierer am Schalter sagte zu mir: »Merk es dir, von heute an wirst du nie wieder mit Nachlass reisen.«
Das war eine erhebliche Erhöhung, Kosten, mit denen wir nicht gerechnet hatten. Als ich Mutter erzählte, dass ich den vollen Fahrpreis zahlen musste, wusste sie genau, um wie viel mehr Kosten es sich für uns handelte, aber sie echauffierte sich nicht, schimpfte nicht auf die Eisenbahn, sondern umarmte mich und sagte etwas Zärtliches zu mir, nahm mich in die Arme und sang etwas vor sich hin, sagte, dass ich nun einmal kein Kind mehr sei, sondern ihr erwachsener Sohn, ein junger Mann, fast so etwas wie das Familienoberhaupt, das sich mutig auf die Reise mache, seinen »verrückten Vater« nach Hause zu holen. Auch die Lehrerin streichelte mich, es freute sie, dass ich langsam, aber sicher in der Erwachsenenwelt heimisch wurde, aber mit einem ironischen Unterton fügte sie an, dass der Staat und die Eisenbahngesellschaft sich früher mit solchen Preisen für Kinder ruiniert hätten. »Bald werden nur noch die Neugeborenen umsonst fahren dürfen, Babys, die an der Mutterbrust saugen«, sagte sie.
37
Als ich am Bahnhof ankam, war ich noch etwas schläfrig, deswegen legte ich mich noch ein bisschen auf die Bank unter der Platane. Bis der Zug aufgestellt wäre, wollte ich dort liegen bleiben. Und als ich darauf wartete, dass mein kleiner Zug einfuhr, ereignete sich etwas Unerwartetes, vielleicht war es das Schönste, das einem kleinen Reisenden geschehen konnte. Plötzlich stand meine Lehrerin vor mir. Ihr schönes Gesicht leuchtete, mir stockte der Atem vor Glück, fast hätte ich mich vor Freude verschluckt, denn sie war gekommen, um mich zu verabschieden, wie eine Mutter oder eine Geliebte – es fällt mir bis heute schwer, diese beiden Gattungen auseinanderzuhalten, denn irgendwie finden sie ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Liebe ohnehin als Zustand von allein zueinander, berühren sich auf eine uns erklärbare Weise, aber ich bitte den Leser oder den Kritiker, hier nicht gleich die Psychoanalyse zur Hand zu nehmen und doch eher diesen Deutungsschlüssel zu vergessen, denn im Falle dieser beiden Göttinnen, die in meinem Leben eine wichtige Rolle spielten, gibt es nicht einmal den Ansatz einer inzestuösen Energie, es ist vielmehr etwas gänzlich anderes Schönes. Für mich ist es eine besondere Verbindung, etwas Feierliches, ja nahezu Religiöses, wenn die Lehrerin, das Ideal der Geliebten, mit der Mutteridee verschmilzt, wenn beide Bilder ineinander übergehen und die erotischen Träume, in denen der Schriftsteller seine Schauplätze markiert, sich überschneiden und Verwandlungen erfahren, denn dann handelt es sich nicht nur um Erotik, sondern tatsächlich um eine besondere Liebe.
Die Lehrerin nahm meine Hand und hielt sie ganz fest, und so gingen wir am Gleis entlang, die Reisenden strömten aus allen Richtungen, das Gedrängel auf dem Perron war groß. Unsere Handflächen waren feucht, vor Aufregung, wir wussten beide um die Richtigkeit meiner Reise, mich, das muss ich zugeben, bewegte aber ihre Anwesenheit noch viel mehr als die eigentliche Reise. Und ob ich meinen Vater dann finden würde oder nicht, das war in diesem Augenblick zweitrangig für
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