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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Friedhof in Mihalje erwähnt. Vielleicht hielt mein Vater sich dort auf, da konnte man immer eine gute Stelle zum Ausruhen zwischen den Gräbern finden. Ich hatte mir auch alle Wirtshäuser aufgeschrieben, alle Orte, die für meinen Vater wichtig waren; wenn es auch in letzter Zeit dort zu vielen Veränderungen gekommen war und es überall neue Wirtsstuben unweit von Labad gab, erhoffte ich mir etwas davon. Überall wurde Wein und Schnaps ausgeschenkt, es gab viele neue Büdchen, die keine Genehmigung hatten, so hatte es jedenfalls Vater immer erzählt, wenn er nach langen Nächten, in denen er getrunken hatte, wieder nach Hause kam. Ich wusste, dass es mir nicht leichtfallen würde, eine solche Gaststube zu betreten und wie ein Spitzel die Gäste in Augenschein zu nehmen. Die Besitzer konnten mich deshalb durchaus zum Teufel schicken und einfach wieder auf die Straße hinauswerfen.
    Ich stand am Bahnhof und dachte darüber nach, in welche Richtung ich am besten zuerst gehen sollte, beschloss im Stillen, nicht etwa mit gebeugtem Kopf, sondern eifrig zu gehen, mit einem durchdringenden Blick, denn wenn du jemanden treffen möchtest, munterte ich mich selbst auf, dann triffst du ihn auch. Jeder von uns hat so etwas schon erlebt. Mutter wäre in diesem Moment eine sehr gute Wegweiserin für mich gewesen. Häufig lobte sie selbst ihre Ortskenntnisse in Gruž, denn früher hatte es zu Trebinje gehört. Oft sind wir hier gewesen, waren herumgegangen wie in einem Viertel unserer eigenen Stadt. Es gab viele Fischer aus unserem Ort, die von hier aus den Fang nach Hause brachten. Sie sprach davon, dass das Brot der Fischer ein bitteres war und dass einige unserer Städter nicht so geschickte Hände wie die Leute von der Küste hatten und deshalb draußen auf dem offenen Meer ihr Leben ließen, weil sie nicht so schnell die Netze auswerfen konnten. Wenn Mutter also diese Einzelheiten über die Fischer wusste, ging mir durch den Kopf, dann müsste es ratsam sein, noch einmal auf dem Zettel nachzuschauen, was sie mir aufgeschrieben und was sie mir alles vor meiner Abreise geraten hatte.
    Ich weiß nicht, warum es mich zum Wartesaal des Bahnhofs zog, welcher Teufel mich ritt, in die leere Wartehalle zu gehen. Was suchte ich dort nur? Man bekam kaum Luft, es war alles verraucht und verstaubt. Es kratzte mir im Hals, und jeder andere hätte sofort die Flucht ergriffen. Ich setzte mich in den Warteraum und schaute mir die Aufschriften an. Auf einer Wand war das Zeichen des Roten Kreuzes zu sehen, darunter der Satz: Woche des Kampfes gegen Tuberkulose , und dann etwas weiter unten auf der gleichen Wand, oberhalb des Kassenschalters: Bitte Kleingeld vorbereiten!
    Und während ich dies zum wer weiß wievielten Male las, hörte ich, dass jemand am Gleis hustete, es war jener typischer Raucherhusten, an dem sich auch unzählige Male schon mein Vater verschluckt hatte, während er sich selbst schwor, wirklich eines Tages mit dem Rauchen aufzuhören. Unzählige Male habe ich später in großen Städten, auf Straßen, in irgendeiner Wartehalle, so oft den Husten meines Vaters gehört, war stehen geblieben, hatte ihn mit meinen Blicken gesucht, ihn oder seinen Doppelgänger. Und damals, auf der Bahnstation in Gruž, fing ich an zu zittern, eine Gänsehaut fuhr mir durch den ganzen Körper, denn ich dachte natürlich in jenem Augenblick, es könnte wirklich mein Vater dort stehen. Solche Dinge hatte ich schon früher und auch später erlebt, deshalb ging ich vorsichtig zum Fenster und sah heimlich auf die Gleise. Aber es war niemand zu sehen, der Husten nicht mehr zu hören, es gab keine übersinnliche Magie, die mir Vater in die Arme gebracht hätte.
    Aber dennoch, oft genug hatte diese Mathematik des Lebens ihre Wirkkraft entwickelt und jene Knäuel, die ich verflochten hatte, wieder auf eine fatale Weise in eine Ordnung gebracht, die für mich etwas Rigoroses an sich hatte. Aber darin entdeckte ich trotz allem immer ein System, deswegen deutete ich die ganze Situation als ein zwangsläufig entstandenes Warten auf den Vater . So war auch der Titel einer meiner Kurzgeschichten, die ich bei einem Wettbewerb eingereicht hatte, die das Blatt »Politika« mit einem Preis würdigte; ich denke, es war im Jahr 1962. Und jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich schon auf der »Allee zwischen den Bäumen – dem klassischen Pfad des Alters«, wie es in den Zeilen einer meiner Lieblingsdichter heißt, aber ich lache auch darüber, denn je älter

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