Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
ich werde, desto fröhlicher werde ich auch.
Kürzlich habe ich bei einem anderen Schriftsteller nachlesen können, dass die Halluzinationen der Kindheit der Wirklichkeit zuwiderhandeln, ich muss mich dann – wenn das tatsächlich stimmt – fragen, ob meine ganze Kindheit eine lange und unendlich mühsame Halluzination war und ob das, was ich erlebt habe und wer ich heute bin, am Ende nur eine »verfälschte Wirklichkeit« ist. Denn wer bin ich eigentlich?
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Als ich auf die Straßenbahnlinie Nummer 1 Kantafug-Pile wartete, überkam mich ein kleinmütiges Gefühl, ich zweifelte auf einmal daran, meinen Vater in dieser großen Stadt, die so viele Verlockungen in sich trug, jemals zu finden. Wenn ich all diese Ecken absuchen wollte, dachte ich, bräuchte ich zwei, drei Tage dafür, um in den Schenken und Gaststuben nach Vater zu fragen. Sicherlich müsste ich auch die Nächte umherstreifen und würde noch Ärger kriegen, weil man mir ansah, wie alt ich war. Außerdem hielt mein Vater sich ab und an auch in anderen Städten auf, vielleicht war er überhaupt nicht hierhergereist oder war in der Zwischenzeit mit dem Autobus nach Hause zurückgekehrt; und die Zeit für meine Suche war in jedem Fall begrenzt, ich musste ihn bis zur Abfahrt des Zuges am Nachmittag finden. Ich war besorgt und verschreckt, meiner gar nicht mehr so sicher und wusste nicht, ob ich das zu erfüllen in der Lage war, was ich meiner Lehrerin und meiner Mutter versprochen hatte. Wenn ich gewusst hätte, wo ich Vater genau hätte suchen müssen, wäre das vielleicht leichter für mich gewesen, ich hätte Vater einfach zum Zug gebracht, aber so hatte ich noch nicht einmal den Ansatz eines Planes, deshalb entschied ich diese wichtige Sache, die meiner Verantwortung oblag, auf meine Weise zu lösen, wie ich das später noch oft im Leben getan habe, als erwachsener Mann, der sich der einen oder anderen Herausforderung zu stellen hatte. Meine Idee war, mich einfach treiben zu lassen und überhaupt nichts aktiv zu tun, sondern einfach nur zu schauen, wo ich von allein landen würde, hoffend natürlich, dass sich alles einfach von alleine auflösen ließe, so wie ein Wollknäuel, das einen Berg herunterrollt und am Ende ein schlichter Faden ist. Ich habe das Leben immer als einen Abstieg verstanden, nur Dummköpfe denken, dass es nur bergauf geht. Wenn ich also nichts tun konnte, dann sollte ich es auch tatsächlich unterlassen, die Lösung musste bei jemand anderem liegen. Es ist keine Schande, ein zaghafter Mensch zu sein. Außerdem fand ich in der Zaghaftigkeit immer auch eine Art Berufung. Und wenn nichts anderes mit mir anzufangen war, dann schrieb ich eben aus Zaghaftigkeit.
Ich ließ die Straßenbahn wegfahren, ich war ohnehin eingenommen von der Betrachtung der Matrosen, von ihren Kappen und Uniformen, es waren junge Männer ohne Bärte, die genüsslich lachten und lange auf dem Bahnhof stehen blieben, offenbar spielten sie eine Art Spiel, in dem es darum ging, die vorbeifahrenden Straßenbahnen genauso wie ich zu verpassen. Einen Augenblick lang hatte ich sogar vollkommen vergessen, warum ich nach Dubrovnik gereist war, still und geradezu heimlich nahm ich an der Freude der Matrosen teil, obwohl ich überhaupt nicht verstand, was der Grund für ihre übermäßige Freude war. Sie hielten sich an den Händen und bewegten sich so, als wären sie auf einem Schiff. Ich war von dem tiefen Wunsch durchdrungen, mit ihnen zu reden, aber ich wagte es nicht, ein Gespräch anzufangen, im Kopf hatte ich schon ein paar Satzanfänge für die Matrosen zurechtgelegt. Ich gebe zu, ich hatte diese Sätze von anderen Menschen gehört, ich habe sie mir nicht ausgedacht. Einmal hatte sich Herr Ljubo Maras mit meinem Vater unterhalten, er war überzeugt davon, dass ein junger Matrose nie zu einer schnellen Entscheidung in der Lage war, jedenfalls nicht so wie einer, der schon das vierte Jahr auf See hinausfuhr, im fünften die hohen Masten eroberte, um im zwölften Jahr auf den Schiffen den Stürmen zu trotzen. Wenn es zu einem Gespräch mit den Matrosen gekommen wäre, hätte ich mit Sicherheit die Geschichte meiner Urgroßmutter Petruša erwähnt, die als junge Frau in ihrem Dorf drei Matrosen versteckt gehalten hatte. Sie waren von einem Kriegsschiff geflohen, und als ein Monat vorbeigegangen war, hielten sie alle drei um ihre Hand an.
Die Straßenbahn kam lange nicht vorbei, irgendjemand sagte, dass sie an der Station Lapad von den Schienen abgekommen war,
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