Die Stadt - Roman
als er Wärme fühlte, wie von lebendigen Körpern. Aber das schwarze Material, aus dem die beiden Pferde bestanden – wie Obsidian – nahm nur die Wärme der Sonne auf. Auch die Luft war warm; dieser Teil der Stadt blieb vom Winter verschont.
»Dakota und Delight«, murmelte er und sah sich die Augen an. Sie spiegelten den Sonnenschein wider, aber es schien noch ein anderes Licht in ihnen zu geben, ein Funkeln in der Tiefe, das darauf wartete, nach oben zu steigen. »Man könnte sie für lebendig halten, wie in einem Moment erstarrt. Man könnte glauben, dass sie sich gleich bewegen, vom Sockel springen und über den Platz galoppieren.«
Wie über die Wiese. Vor dem inneren Auge sah er die beiden Pferde auf der anderen Seite des weißen Zauns, bei ihnen die junge Frau, die Muriel hieß und Townsends Tochter war. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um sie durch das Fenster mit den Gitterstäben zu sehen. Während er sie beobachtete, stellte er sich vor, wie er Muriel tötete, so wie er auch Townsend töten würde – oder hatte er das schon getan? –, sich anschließend auf den Rücken eines der beiden schwarzen Pferde schwang und in die Freiheit ritt.
»Ben?«
Er blinzelte im Licht der Sonne. »Ja?«
»Was ist mit dir?«, fragte Louise.
»Nichts«, sagte er und versuchte, seine wild umherfliegenden Gedanken einzufangen. Woher kamen jene seltsamen Bilder? »Es ist alles in Ordnung.«
»Du hast die Namen der Pferde genannt.« Als Benjamin nicht antwortete, fügte Louise hinzu: »Du bist komisch, Ben. Erst rennst du einige Kilometer, weil du es so eilig hast, und dann stehst du hier und bestaunst die beiden Pferdestatuen.«
Benjamin wandte sich mit einem Ruck von den Pferden ab. Dakota und Delight, dachte er. Ich kenne euch. Wie kommt ihr hierher? Wie kommt ihr in meinen Kopf? »Die alten Fabriken«, sagte er. »Von dort ist der Testballon gestartet. Sie sind hier in der Nähe, hat Laurentius gesagt. Kennst du sie?«
»Ich bin vor einigen Monaten dort gewesen, auf der Suche nach dem Arsenal«, erwiderte Louise und streckte den Arm aus. »Die Straße dort. In einer halben Stunde können wir da sein.«
»Also los.«
Stille umgab sie, als sie dem Verlauf der Straße folgten und dabei so weit wie möglich im Schatten der Häuser blieben, die während des ersten Kilometers dicht an dicht standen. Dann wuchsen die Abstände zwischen ihnen, und auch die Gebäude selbst veränderten sich. Giebelhäuser wichen funktionalen Gebäuden aus Glas und Beton, deren Mauern fleckig waren und in deren Fenstern manchmal die Scheiben fehlten – offenbar hielt es die Stadt nicht für nötig, sie zu reparieren. Wenn sie die Straße an einer Kreuzung überqueren mussten, blieben sie zunächst stehen und hielten wachsam Ausschau. Nirgends bewegte sich etwas, weder auf den Straßen noch hinter den Fenstern und in den dunklen, vom Sonnenschein unerreichten Hauseingängen. Nichts deutete darauf hin, dass sich Streuner in der Nähe befanden. Benjamin hob mehrmals den Kopf und beobachtete den Himmel. Der Ballon, den sie von der Bibliothek aus gesehen hatten, war längst in Richtung Stadtrand verschwunden, und ein weiterer war nicht in Sicht.
»Vielleicht hätten wir uns die Mühe sparen können«, sagte Louise. »Vielleicht gibt es keine weiteren Ballons.«
Benjamin wollte die Hoffnung nicht aufgeben. »Wir werden sehen.«
Die Fabrikgebäude waren lang und flach; zwischen ihnen erstreckten sich leere Parkplätze und Zufahrtsrampen. Der Wind strich mit einem wortlosen Flüstern über Asphalt und Beton und brachte ein etwa hundert Meter entferntes verrostetes Firmenschild zum Schaukeln – mit einem leisen Quietschen baumelte es vor dem Eingang eines Verwaltungstrakts hin und her.
Eine Stunde lang wanderten sie zwischen fast gleich aussehenden
Gebäuden dahin. Hier und dort sahen sie durch Türen und Fenster, und überall bot sich ihnen das gleiche Bild: leere Büros und Produktionshallen, in denen es nur noch Staub gab.
»Als du hier nach dem Arsenal gesucht hast …«, sagte Benjamin enttäuscht. »Ist dir nichts aufgefallen?«
»Nein, nichts. Es war hier so menschenleer wie jetzt. Meine Güte, ich komme um vor Hunger. Hast du noch Äpfel?«
Benjamin griff in die Parkatasche. »Dies ist der letzte.«
Louise nahm ihn entgegen und biss hinein. »Ich esse nur die eine Hälfte, die andere ist für dich«, sagte sie mit vollem Mund. »He, vielleicht sollten wir diesmal auch die Kerne schlucken, damit sie uns zeigen, wo
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