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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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der Ballon gestartet ist.«
    Benjamin drehte sich langsam um die eigene Achse und zog die Stirn kraus. »Sei mal ganz still.«
    Louise machte große Augen und versuchte möglichst leise zu kauen und zu schlucken. Dann hielt sie den Atem an, und als nichts geschah und die Stille andauerte, schnappte sie schließlich nach Luft. »Hier ist nichts. Wir sind allein.« Sie bot ihm die Hälfte des Apfels an, doch er schüttelte stumm den Kopf und sah sich noch immer um. »Wir müssen uns bald auf die Suche nach Lebensmitteln und vor allem nach Wasser machen, Ben.«
    Er hob die Hand.
    »Was ist denn?«, fragte Louise und biss erneut in den Apfel.
    »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber … Komm.« Er ging zum nächsten Fabrikgebäude, das ein ganzes Stück höher war als die anderen und an der Vorderseite keine Fenster aufwies,
nur eine große, verzinkte Schiebetür. Dicht davor blieb er stehen. »Hörst du nichts?«
    Louise nahm den letzten Bissen und warf den Rest des Apfels mit den Kernen weg. »Nein.«
    Benjamin legte die Hand auf die Schiebetür. »Wenn du es nicht hörst, kannst du es fühlen. Ein dumpfes Brummen, das die Tür vibrieren lässt. Fass mit an.«
    Gemeinsam versuchten sie, die Tür aufzuschieben. Zuerst widersetzte sie sich ihren Bemühungen, aber dann rollte sie mit einem protestierenden Knarren beiseite. Ein dunkler, leerer Vorraum erwartete sie, mit einer geschlossenen Metalltür auf der anderen Seite.
    »Jetzt höre ich es ebenfalls«, sagte Louise. »Es ist … wie ein Druck auf den Ohren.«
    Benjamin blieb nachdenklich stehen und sah noch einmal nach draußen, wo sich nichts regte. »Im Supermarkt gibt es keine Abteilung für Heißluftballons, und selbst wenn es eine gäbe: Hannibal ließe niemanden hinein. Ich schätze, es ist alles andere als einfach, einen Ballon zu bauen. Und wenn man ihn irgendwo dort draußen zusammenbasteln würde, Stück für Stück, bestünde die Gefahr, dass die Streuner darauf aufmerksam werden, nicht wahr?«
    Louise nickte. »Dagos Leute treiben sich überall am Rand herum.«
    »Deshalb haben wir draußen nichts gefunden. Weil die Ballonbauer vorsichtig sein müssen. Vielleicht sind sie hier.« Benjamin ging zur Metalltür auf der anderen Seite des Raums und drückte die Klinke. »Abgeschlossen.«
    »Lass es mich mal versuchen.« Louise griff nach der dünnen Schnur an ihrem Hals und zog daran. Zum Vorschein
kam ein kleiner Beutel, dem sie etwas entnahm, das wie ein krummer dünner Nagel aussah. Damit trat sie zur Tür und machte sich am Schloss zu schaffen. Etwa eine halbe Minute später klickte es, und Louise lächelte zufrieden. »Voilà«, sagte sie und wiederholte die Geste, mit der sie ihn kurz nach seinem Erwachen in der Stadt in eine Wohnung eingeladen hatte.
    Benjamin bedachte sie mit einem anerkennenden Blick, drückte erneut die Klinke und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Sofort hörten sie beide ein sonderbares Surren und Rasseln.
    Es stammte, wie sich kurz darauf herausstellte, von einem seltsamen Apparat, der aus einer großen Öffnung im Boden bis zur Decke ragte. Sie näherten sich ihm, nachdem sie festgestellt hatten, dass sich niemand in der Halle aufhielt. Die Vorrichtung war aus Kunststoff- und Metallteilen improvisiert : Rollen und Zahnräder, untereinander mit Seilen, breiten Gummibändern und Keilriemen verbunden. Oben, dicht unter der Decke, überwogen die Teile aus Metall und führten durch einen Schacht aufs Dach. Aus mehreren Oberlichtern daneben fiel Licht auf den Mechanismus und die große Öffnung im Boden.
    Etwa einen Meter vor dem Rand des Lochs, das mindestens zwanzig Meter durchmaß, blieb Benjamin stehen, sah hinab und staunte. Hunderte von großen und kleinen Zahnrädern drehten sich dort, griffen fast geräuschlos ineinander, bewegten Wellen und armdicke Stangen. Alles war gut geölt und glänzte silbrig an einigen Stellen, in einem hellen Blau an anderen. Das Brummen, das Benjamin draußen gehört und als Vibration in der Tür gefühlt hatte – es stammte von
diesen Zahn- und Schwungrädern, von den Wellen, die sich unter den Rändern des Loches im Boden fortsetzten.
    »Was ist das?«, fragte Louise.
    »Eine Maschine«, sagte Benjamin langsam und starrte in die Tiefe. »Oder besser: Teil einer gewaltigen Maschine unter unseren Füßen.« Das Licht reichte einige Dutzend Meter weit, aber etwas sagte ihm, dass sich die komplexe Masse aus Zahnrädern, Wellen und Stangen noch viel weiter in die Tiefe fortsetzte. Und nicht nur dorthin.

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