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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Für einen Moment glaubte er, durch festen Boden zu sehen und einen Blick auf das ganze Ausmaß der Maschine werfen zu können, auf ein riesiges, wie von Titanen geschaffenes Uhrwerk, das ständig in Bewegung war, so gut geschmiert, dass es nur ein leises, kaum hörbares Brummen verursachte. »Vielleicht ist dies das Herz der Stadt, ihr Motor.« Eine Maschine, die das Jenseits antreibt, dachte er. Bestehend aus Tausenden und Abertausenden von Zahnrädern und Wellen.
    Eine Zeit lang beobachteten sie beide die sich drehenden Zahnräder, von denen eine fast hypnotische Faszination ausging.
    »Ich kann mir kaum vorstellen, dass Menschen so etwas gebaut haben«, fügte Benjamin hinzu und dachte an Velazquez’ Theorie von Aliens, die in der Stadt ein Experiment durchführten.
    »Die Maschine unter uns nicht«, sagte Louise. »Aber den Mechanismus darüber.«
    Jemand hatte die Maschine angezapft, mithilfe einiger Riemen und eines großen Zahnrads, das aus Gusseisen zu bestehen schien und besonders breite Zähne hatte. Sie stahlen der kolossalen Maschine etwas von ihrer Kraft, leiteten
sie nach oben weiter, bis hin zu den Metallteilen im Deckenschacht. Benjamin sah nach oben und bemerkte einen Schatten, der kurz über eins der Oberlichter strich.
    »Jemand ist auf dem Dach«, sagte er leise und tastete instinktiv nach der Pistole in der Parkatasche. Aber er zog sie nicht. Er war hierhergekommen, um die Stadt in einem Ballon zu verlassen, nicht um jemanden zu erschießen.
    Louise zeigte zur Treppe, die an der Rückwand der Halle nach oben führte. Sie eilten am Loch im Boden vorbei, stiegen die Treppe hoch, blieben oben vor der Tür stehen und wechselten einen Blick.
    »Wenn die Ballonfahrer auf dem Dach sind, ist es vielleicht besser, sie nicht zu erschrecken«, sagte Benjamin leise.
    Louise deutete zur Tür, als wollte sie ihm mitteilen: Ich überlasse dir den Vortritt.
    Benjamin zögerte kurz, klopfte dann an die Tür und rief: »Hallo?«
    Louise rollte mit den Augen. »Was Besseres fällt dir nicht ein?« Sie trat an Benjamin vorbei, öffnete die nicht abgeschlossene Tür und rief: »Hier sind zwei Besucher, die es gut meinen!«
    »Das muss sich erst noch herausstellen«, brummte jemand und richtete eine Armbrust auf sie.

    Der Mann war groß und schlank, trug einen fleckigen blauen Overall und hatte strähniges weißes Haar, das ihm wirr in die Stirn hing. Er schien zehn oder fünfzehn Jahre älter als Benjamin zu sein und hatte ein kantiges Gesicht, wie aus Stein gemeißelt.
    Louise hob die Hände. »Ich bin’s, Louise.«

    Die Armbrust wanderte einige Zentimeter nach rechts. »Und der Bursche neben dir? Sehe ihn zum ersten Mal.«
    »Er ist noch nicht lange in der Stadt und heißt Benjamin. Wir haben den Ballon gesehen.«
    »Na bitte.« Der Mann ließ die Armbrust sinken und drehte sich halb um. »Hab ich’s nicht gesagt? Jemand wird den Ballon sehen, wenn er am Tag startet, hab ich gesagt. Jemand wird ihn sehen und hierherkommen. Aber hat man auf mich gehört? Nein, hat man nicht. Und jetzt sind Fremde hier!«
    Jemand anders trat in Benjamins Blickfeld, ein Mann um die fünfzig, der wie ein Universitätsprofessor aussah und eine Brille mit rechteckigen Gläsern trug. In den Händen hielt er ein Gerät aus Messing, an dem unten ein Pendel hin und her schwang.
    »Kowalski?«, brachte Benjamin erstaunt hervor.
    »So sieht man sich wieder, mein lieber Benjamin«, sagte Kowalski und fügte ernst hinzu: »Ich fürchte unser Wiedersehen steht unter keinem guten Stern. Mein Katastrophenmeter zeigt Wert zehn auf der positiven Skala. Das ist der höchste Wert seit Tagen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor.«
    »Aber du weißt es besser«, sagte Louise.
    »Natürlich, meine Liebe. Das Ende der Welt kann nicht bevorstehen, weil es bereits stattgefunden hat.«
    »Was an den Quanten liegt.«
    Kowalski wölbte eine Braue und sah sie über die Brille hinweg an. »Nein, es liegt nicht an den Quanten, sondern an den Atomexplosionen. Was du eigentlich wissen solltest, denn ich habe oft genug davon erzählt. Machst du dich vielleicht über mich lustig, junge Dame?«

    »Das käme mir nie in den Sinn.«
    Benjamin stellte fest, dass der Mann im fleckigen blauen Overall noch immer die Armbrust auf ihn gerichtet hielt. »Wir möchten euch begleiten, wenn ihr die Stadt verlasst.«
    »Louise, mein lieber Benjamin …« Mit der freien Hand schob Kowalski die Brille höher auf den

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