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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Seite, nahm ihm das Buch aus den Händen und blätterte darin. »Oder vielleicht auch nicht. Ich sehe hier nur Punkte, Striche und Schnörkel, wie auf der Tafel bei der Statue des Kriegers.«
    »Du kannst nichts davon entziffern?«
    »Nicht ein Wort.« Sie gab ihm das Buch zurück.
    Diesmal sah Benjamin auf dem Deckel sofort lesbare Worte, ohne dass sich sonderbare Zeichen neu anordnen mussten. »Kennst du einen gewissen Dr. Bertrand Gilbert Du Pont?«
    »Hab nie von ihm gehört.«
    »Beziehungsweise Agostino?«
    »Oh, Agostino.« Louise nickte. »Der Tüftler. Ein Unabhängiger. Lebt im Norden der Stadt. Hab ihn schon lange nicht mehr gesehen. Du kannst das alles lesen?« Sie deutete auf das Buch.
    Benjamin blätterte erneut und las eine Stelle. »Er ist homosexuell, wusstest du das?«
    »Agostino? Nein, ich hatte keine Ahnung.«
    Benjamin steckte das Buch nachdenklich zu dem anderen, von dem er Louise nichts erzählt hatte. »Gehen wir.«

    Vom Lesezimmer mit der Uhr brauchten sie etwa drei Minuten bis zum Hinterausgang, und von dort war es eine weitere Minute bis zu dem Weg, der kaum als solcher zu erkennen war. Er führte in einem Bogen durch die Ruinen, und an einer Stelle verschwand er unter einer Mauer, die offenbar erst vor kurzer Zeit umgestürzt war.

    »Bist du sicher, dass es der richtige Weg ist?«, fragte Benjamin, als sie an einem Fenster im ersten Stock standen und sich orientierten.
    »Ja, bin ich«, bestätigte Louise.
    »Und wenn du dich irrst?«
    »Ich irre mich nicht«, sagte sie, und Benjamin hoffte, dass er sich den unsicheren Unterton in ihrer Stimme nur einbildete.
    Sie warteten die letzten Minuten im Lesezimmer. Als die Uhr vier Minuten vor zwölf zeigte, brachen sie auf und gingen mit der gleichen Geschwindigkeit wie zuvor. Sie verließen die Bibliothek durch den Hinterausgang, traten in den frühlingshaft warmen Tag und schritten an einem verrosteten Maschendrahtzaun entlang, der mehrere Löcher aufwies – vielleicht waren Kreaturen hindurchgekrochen. Am Beginn des Weges warteten sie eine weitere Minute, und als Benjamin ruhig bis sechzig gezählt hatte, liefen sie los. Ihnen blieben etwa fünf Minuten.
    Der Boden unter ihnen öffnete sich nicht, und wenn es hier Pfeile und Speere gab, so blieben sie zwischen den Ruinen rechts und links verborgen.
    Hinter dem Hügel aus Schutt hatte Benjamin weitere Hindernisse befürchtet, die vom Fenster aus nicht zu sehen gewesen waren. Stattdessen wurde der Weg etwas breiter, wand sich um die Reste eines Turms und erreichte nach etwa hundertfünfzig Metern den rissigen Asphalt einer Straße, die von niedrigen Gebäuden gesäumt in die Stadt führte. Das Licht der falschen Sonne fiel dort auf Dächer, rot wie Rubin.
    Als sie das Ende des Weges erreichten, ohne dass etwas geschehen war, schaute Benjamin fast ungläubig zurück. Jenseits
des Ruinenfelds zeigte sich, vage und fern, die graue Wand des Nebels.
    »Ich kann kaum glauben, dass es so einfach war«, sagte er.
    »Ohne die Uhr wäre es alles andere als einfach gewesen«, erwiderte Louise und deutete auf den blutverkrusteten Rücken ihrer Jacke.
    Als sich Benjamin umdrehte und über die Straße blickte, schwebte ein großer bunter Ballon über den Dächern der Stadt. In der Stille glaubte er, das Fauchen des Brenners zu hören, der heiße Luft in die Ballonhülle blies und ihn aufsteigen ließ. Diesmal war es kein Test: Im Korb standen Menschen, und einer von ihnen streckte den Arm aus und deutete über die Stadt.
    »Sie fliegen ohne uns los!«, rief Benjamin.

    In der Bibliothek herrschte Stille. Sonnenstrahlen krochen durch staubige Fenster, wanderten durch leere Räume und strichen über Bücher in Regalen. In einem Lesezimmer erreichten sie die Uhr zwischen den Porträts zweier ernst wirkender Männer in mittelalterlicher Kleidung. Sie hörte auf zu ticken, und ihre Zeiger verschwanden.

Der Ballon

37
    Der Platz war rund und nicht so groß wie jener, auf dem der Gefangenenaustausch stattgefunden hatte. Zweistöckige Giebelhäuser umgaben ihn, mit Balkonen aus verwittertem Holz. In der Mitte des Platzes führten drei Stufen zu einer Plattform, auf der zwei schwarze Pferde standen. Benjamin ging langsam um sie herum und betrachtete sie von allen Seiten. Das linke Pferd hatte den Kopf halb gesenkt, und er glaubte fast, ein Schnauben von ihm zu hören. Das rechte wirkte temperamentvoller und schien Anstalten zu machen, auf die Hinterläufe zu steigen. Er berührte seine Flanken und erschrak fast,

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