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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Lesezimmer, die uns die genaue Zeit angab. Wie hätten wir die Bibliothek sonst verlassen können, ohne in eine der Fallen zu geraten? Vielleicht will die Stadt, dass wir sie verlassen.«
    »Die Stadt ist kein denkendes Wesen, Ben.«
    »Wir haben die Maschine gesehen, beziehungsweise einen Teil davon. Ein riesiges Gebilde aus Zahnrädern und Wellen. Alles dreht sich, alles ist in Bewegung. Ich weiß nicht, wie ein mechanisches Etwas – auch wenn es noch so groß ist – eine Stadt wie diese schaffen und erhalten kann. Aber ich weiß, dass eine solche Maschine geschmiert und gewartet werden muss. Wer kümmert sich darum? Wer repariert sie, wenn es irgendwo zu einem Schaden kommt? Wer wechselt defekte Teile aus?«
    » Gott?«
    »Glaubst du das wirklich?«
    Louise zuckte die Schultern und trank noch einen Schluck Medizin. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Ben«, sagte sie. Und dann, etwas lauter: »Spielt es überhaupt eine Rolle? Wir leben hier ein Leben nach dem Tod, ohne dass sich jemand um uns kümmert. Ob Gott die Stadt erschaffen hat, oder ob sie von hypothetischen Erbauern errichtet wurde – macht es einen Unterschied für uns?«

    »Vielleicht sehen wir den Unterschied, wenn wir die Stadt verlassen.«
    »Und wenn wir gar nichts sehen, außer Nebel, Ben? Hast du daran gedacht? Du hast die Stadt ein Gefängnis genannt, und in gewisser Weise stimmt das. Du sprichst davon, in die Freiheit zu entkommen, und vielleicht ist es dir ernst damit. Aber es ist nur die halbe Wahrheit. Du suchst Antworten, Ben. Es ist nicht die Unfreiheit in dieser Stadt, die dich quält. Es sind deine Fragen, die dich nicht in Ruhe lassen. Fragen, die dein Leben betreffen, und das, was uns hier umgibt. Du suchst nach einem Sinn , aber vielleicht gibt es gar keinen.« Louise trank einen Schluck, und Benjamin musterte sie, erstaunt von ihren Worten und der Tiefe darin. »Vielleicht ist das, was wir hier erleben, gar nichts Besonderes«, fuhr Louise gestärkt von der Medizin fort. »Was wissen wir vom Tod? Nichts. Niemand ist jemals zurückgekehrt, um uns davon zu berichten. Die Religionen könnten sich irren, sie alle. Vielleicht ist das, was wir hier erleben, ein völlig normales Jenseits. « Sie lachte leise, aber es klang nicht besonders lustig. »Vielleicht besteht der Sinn des Ganzen darin, dass es keinen Sinn gibt.«
    »›Es gibt keinen Zufall. Und was uns blindes Ungefähr nur dünkt, gerade das steigt aus den tiefsten Quellen‹«, sagte Benjamin.
    »Das klingt nach einem Zitat«, sagte Louise, das Glas auf halbem Weg zum Mund.
    »Friedrich Schiller. Eins weiß ich von meinem Leben: Ich habe viel gelesen.«
    »Auch ein Schiller kann sich irren.«
    »Du bist betrunken, Louise.«

    »Betrunken?« Sie zwinkerte ihm zu. »Es ist nur Medizin.«
    Das letzte Licht des Tages schwand. Der Brenner fauchte, und seine Flamme warf einen flackernden Schein übers Dach. Die Halteseile knarrten, als sich der Ballon über dem Korb noch etwas mehr aufblähte.
    Kowalski näherte sich. »Sitzt nicht einfach nur herum, ihr beiden. Macht euch nützlich. Hilfst du mir, die Geräte einzupacken, Benjamin?«

    »Ich wusste gar nicht, dass du die Stadt verlassen willst«, sagte Benjamin, als sie sich daranmachten, einige große und kleine Apparaturen von ihren Kabelverbindungen zu lösen und auseinanderzunehmen. In der Nähe, am Ende des aus dem Gebäudeinnern kommenden Schachts, summte der Generator und verwandelte Bewegung in elektrischen Strom. »Im Hochhaus hast du nichts davon gesagt.«
    »Aus gutem Grund, mein lieber Benjamin. Aus gutem Grund.«
    »Wegen Katzmann? Scheint gern und viel zu reden, dieser Katzmann.«
    »Hannibal hat den Zugang zum Labyrinth inzwischen zumauern lassen«, sagte Kowalski, ohne auf Benjamins Frage einzugehen. Er zog mehrere Kabel aus einem sehr komplex wirkenden Instrument, in dem, von Bügeln aus Messing und Aluminium umgeben, mehrere Pendel kreisförmig umeinander schwangen. Manchmal kamen sie sich sehr nahe, doch ein Kontakt blieb aus. Kowalski sah auf Anzeigen, betrachtete zitternd über Skalen wandernde Zeiger und schüttelte besorgt den Kopf. »Er hätte vermutlich auch den Bau der Ballons verhindert. Manchmal ist Unwissenheit ein Segen.«
Er deutete auf den Generator. »Zwei Jahre haben Agostino und ich hier gearbeitet, unter strengster Geheimhaltung.«
    »Ganz so geheim ist euer Projekt nun auch nicht«, sagte Benjamin und deutete auf die Leute beim Ballon. Sie hatten damit begonnen, ihre Sachen in den Korb zu

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