Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
laden.
    Agostino saß noch immer am Rand des Dachs und las im Licht der Lampe in seinem Lebensbuch. Kowalski beugte sich vor und schaltete den Generator aus, woraufhin die Lampe erlosch. Agostino sah überrascht auf, und Kowalski winkte ihm zu. »Wir sind fast fertig. Achte darauf, dass die anderen nicht zu viel in den Korb packen. Wir haben zwei zusätzliche Passagiere, und das bedeutet, dass wir auf einen Teil des Gepäcks verzichten müssen.«
    Agostino nickte, steckte das Buch ein und eilte zum Korb.
    »Die anderen wissen erst seit wenigen Tagen von dieser Sache«, sagte Kowalski. Er hatte die Kabel aller Geräte und Apparate gelöst und legte einzelne Teile in zwei bereitstehende Koffer. »Eigentlich erst, seit Hannibal den Zugang zum Labyrinth versperrt hat. Einige von ihnen wollten sich mit Petrow auf den Weg machen. Die Route siebzehn schien vielversprechend zu sein. Aber dann verschwand Petrow, und damit waren jene Pläne dahin.«
    Benjamin staunte darüber, wie vernünftig Kowalski klang, und er erinnerte sich an etwas, das Laurentius gesagt hatte: Glaub nicht alles, was man über Kowalski sagt. Er ist nicht so verrückt, wie die anderen behaupten.
    »Hat Petrow die Stadt verlassen?«
    »Er hat sich in Luft aufgelöst«, sagte Kowalski. »Und er ist nicht der Einzige. Einige weitere Mitglieder der Gemeinschaft
sind verschwunden. Und auch Streuner, wie ich gehört habe. Es passt alles zusammen.«
    »Was passt zusammen?«
    »Der Moment gedehnter Zeit, erinnerst du dich? Wir haben darüber gesprochen. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass er zerreißen wird. Es ist keine Möglichkeit, mein lieber Benjamin, sondern Gewissheit. Die Fluktuationen in der Realitätsstruktur der Stadt nehmen immer mehr zu. Sieh nur diese Skala hier.«
    Die Skala stammte von einem demontierten Apparat und reichte bis zu einem dicken roten Strich mit dem Wert 100. Beim letzten dünnen schwarzen Strich davor zeigte sich eine Markierung.
    »Neunundneunzig«, sagte Kowalski. Er senkte den Kopf und sah Benjamin über die Brillengläser hinweg an. »Neunundneunzig! Hundert bedeutet Chaos und vielleicht totale Zerstörung. Als die Sonne unterging, hat der Zeiger bis neunundneunzig ausgeschlagen.«
    Benjamin deutete in die Nacht. »Es ist ruhig in der Stadt.«
    »Noch, mein lieber Benjamin. Noch. Und hinzu kommt, dass mein Katastrophenmeter Wert zehn auf der positiven Skala angezeigt hat.«
    »Mir ist noch immer nicht ganz klar, was da zusammenpassen soll«, sagte Benjamin, als sie die letzten Einzelteile in den Koffern verstauten. Er wusste nicht, ob es Sinn hatte, das Gespräch mit Kowalski fortzusetzen, denn inzwischen schien er sich wieder in einer manischen Phase zu befinden. Aber so verrückt manche Bemerkungen auch klangen, sie gaben ihm zu denken. Laurentius hatte davon gesprochen, dass sich die Stadt veränderte. Und er hatte vom Verschwinden des Supermarkts
geträumt, was das Leben aller Menschen in der Stadt verändert hätte, vor allem aber das der Gemeinschaftsmitglieder.
    »Es hat immer Menschen gegeben, die die Stadt verlassen wollten, auch wenn Hannibal es nicht an die große Glocke hängt«, sagte Kowalski und schloss die Koffer. »Aber die Leute, die in den letzten Tagen verschwunden sind, unter ihnen Petrow … Sie sind nicht fort, weil sie einen sicheren Weg aus der Stadt gefunden haben.« Er richtete sich auf, rückte seine Brille zurecht und fügte sehr ernst hinzu: »Sie sind aus dem Moment gedehnter Zeit gerutscht und nicht mehr hier .«
    »Wo sind sie dann?«, fragte Benjamin.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
    »Ben, Kowalski!«, rief Louise aus dem Korb des Ballons. »Wir warten nur noch auf euch!«
    Das stimmte nicht ganz, denn Agostino stand am Rand des Daches auf einer Leiter und blickte mit einem Feldstecher über die hohe Mauer hinweg. Sein Verhalten erschien Benjamin sonderbar. Fürchtete er in der Nähe auf der Lauer liegende Beobachter? Wenn es solche Beobachter gab, so hatten sie den Ballon längst gesehen, denn er ragte weit über die Mauer hinaus.
    Kowalski sah ein wenig traurig auf den Generator. »Ich bedauere, dass wir dies alles zurücklassen müssen. Zwei Jahre harte Arbeit …«
    »Was hat es mit der Maschine dort unten auf sich?«, fragte Benjamin, als sie zum Korb gingen, jeder von ihnen einen Koffer in der Hand.
    »Deus ex machina«, erwiderte Kowalski. »Noch nie gehört ? ›Gott aus der Maschine‹. Die Energie der Atomexplosionen,
die uns hierherbrachte, in den Moment gedehnter

Weitere Kostenlose Bücher