Die Stadt - Roman
hinzu: »Ich weiß nicht, was ich machen soll, Ben. Es geht dir verdammt schlecht, und ich habe keine Ahnung, wie weit es noch bis zur Stadt ist.«
»Ich glaube, ich habe getötet.« Benjamin erlebte einen Moment der Klarheit. Die Bilder schwebten noch immer vor
seinem inneren Auge, bereit dazu, die ganze Wahrnehmung zu beanspruchen, aber gleichzeitig war er hier , im Boot auf dem Fluss, in einer Nacht, die dunkler geworden war, weil sich Wolken vor den Mond geschoben hatten. Gelegentlich kam ein Zischen und Fauchen von den Kreaturen, die im Nebel an den Ufern verborgen blieben. »Menschen, meine ich.«
Louise musterte ihn voller Sorge, legte die Wasserflasche beiseite und nahm die Ruder. Das Boot trieb auf dem Fluss, der hier etwas breiter war und langsamer strömte.
»Was den Streuner betrifft, der dich gefangen genommen hat und dem du die Pistole abgenommen hast … Dir blieb keine Wahl.«
»Den meine ich nicht«, sagte Benjamin und erinnerte sich an das Gefühl von Vertrautheit , als er dem Streuner eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. »In meinem Leben. Ich habe Menschen getötet, und es hat mir überhaupt nichts ausgemacht.«
Louise öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Wortlos saß sie da, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte. Plötzlich wirkte sie hilflos und verloren.
»Die anderen Erinnerungen sind falsch«, sagte Benjamin und versuchte den Moment der Klarheit festzuhalten. Der Körper lag schwer wie Beton im Boot, die Muskeln schwach, aber der Geist schwebte leicht und ohne Fesseln. »Es hat nie eine Kattrin gegeben. Ich bin ein ganz anderer, als ich dachte.«
»Wir sind tot«, erwiderte Louise. »Wir sind nicht mehr die, die wir einmal waren.«
Benjamin spürte, wie er erneut zu zittern begann. Er konnte nichts dagegen tun.
»Du bist mehrmals gestorben«, fuhr Louise fort. »Vielleicht ist der Tod nicht nur ein Dieb, der Erinnerungen stiehlt. Vielleicht hat er dir andere Erinnerungen gegeben und alles durcheinandergebracht.«
Konnte das die Erklärung sein? All die Bilder, die in seinem Innern ein wirres Durcheinander bildeten – stammten sie nicht nur aus seiner eigenen Vergangenheit, seinem Leben, sondern auch von anderen Menschen, die irgendwann gestorben und hierhergekommen waren? Hoffnung erwachte in ihm, und Benjamin erkannte den Gedanken als Rettungsleine, die er sich selbst zuwarf. Er wollte glauben, dass die Erinnerungen jemand anders betrafen, ein anderes Leben.
Plötzlich wurde ihm übel. Er schaffte es gerade noch, den Kopf zur Seite zu drehen, bevor er sich übergab und das Flusswasser ausspie, das er eben getrunken hatte.
»Es geht wieder los«, ächzte er, als die Bilder in ihm zu einem Strudel wurden, der sein Bewusstsein ansaugte.
»Stirb nicht.« Louise ruderte wieder. »Stirb nicht noch einmal. Halt durch, bis wir in der Stadt sind. Es kann nicht mehr weit sein. Ich bringe dich zum Hospital, und dort wirst du dich erholen.«
Sie schien sich von ihm zu entfernen, denn ihre Stimme wurde immer leiser.
Dann sah Benjamin das Gesicht eines Mannes, der wie ein freundlicher Professor aussah.
Er stellt mich erneut auf die Probe, dachte Benjamin, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Warum sonst führt er mich hierher? Das angebliche Vertrauen, das er mir damit zeigt,
gehört zu den Kulissen der Bühne, auf der wir uns bewegen. Wir sind nicht allein, auch wenn es so aussieht. Bestimmt gibt es hier Augen und Ohren, die beobachten und lauschen. Bestimmt sind Leute in der Nähe, die eingreifen können, wenn ich beschließen sollte, diesem Mann die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken.
»Gefällt es Ihnen hier, Benjamin?«, fragte Townsend.
Es war ein Salon mit einem großen Kamin, Ledersesseln, einer Bücherwand und einem breiten Fenster, durch das man an den Stallungen vorbei bis zu den Bergen sehen konnte. Auf die Nähe des Instituts deutete nichts hin, obwohl der Raum zum selben Gebäudekomplex gehören musste.
»Es ist ruhig hier«, sagte Benjamin und sah sich um. »Still und friedlich.«
»Ein privater Salon.« Unüberhörbarer Stolz erklang in Townsends Stimme. »Meine Wohnung befindet sich im anderen Flügel des Gebäudes, wie Sie wissen. Manchmal ziehe ich mich hierher zurück, um … nachzudenken.«
Sie schritten über einen dicken Teppich, vorbei an einem Couchtisch mit eingelegten Fliesen. Auf dem Kaminsims standen kleine Statuen von Pferden, und zwei von ihnen waren Dakota und Delight nachempfunden. An der Wand daneben hingen Bilder, die sowohl
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