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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Planungen fertig. Er wusste, wie er die Codes für die Sicherheitstüren bekommen konnte, hatte sich alle Einzelheiten der Baupläne des Instituts eingeprägt und kannte die Diensteinteilung des Personals. Jetzt brauchte er nur noch der Traurigen Bescheid zu geben und ihr zu sagen, dass sie in der kommenden Nacht fliehen würden. Sie wusste noch nichts; bisher hatte er ihr
kein Wort gesagt, aus reiner Vorsicht. Bestimmt würde sie sich freuen, dem Bösen zu entkommen, und dieser Gedanke erfüllte auch Benjamin mit Freude, als er den Teil des Gebäudes aufsuchte, in dem sie untergebracht war.
    Dort herrschte Aufruhr.
    Ein in Weiß gekleideter Pfleger hämmerte an ihre Tür und rief immer wieder: »Machen Sie auf, Françoise!«
    Ein anderer Pfleger eilte mit einem Universalschlüssel herbei, und wenige Sekunden später war die Tür offen. Einige weitere Männer und Frauen des Institutspersonals hielten die aufgeregten, neugierigen Patienten fern, unter ihnen auch Benjamin.
    Die beiden Pfleger mussten hinter der Tür Möbel beiseiteschieben, und kurze Zeit später trugen sie eine blutüberströmte Frau aus dem Zimmer. Während Benjamin unter Schock stand, sah der Beobachter in ihm alles mit ruhiger, kristallklarer Deutlichkeit: die Schnitte im Gesicht, am Hals und an den Handgelenken, die trüben Augen, die kaum mehr Leben enthielten, den Schaum in den Mundwinkeln, vielleicht von einer Überdosis Medikamente.
    Die anderen Patienten riefen und schrien, gestikulierten und liefen durcheinander, aber Benjamin ging still und stumm nach draußen. Im kleinen Park neben dem Institut sank er auf die Bank, auf der er so oft mit der Traurigen gesessen hatte, und blickte über den Teich hinweg ins Nichts. Er gab sich keinen Hoffnungen hin: Mit solchen Verletzungen kannte er sich gut genug aus, um zu wissen, dass Françoise nicht überleben würde.
    Sie starb traurig, jetzt, in diesem Moment, und das war ein Gedanke, der sich schwer wie Blei auf Benjamins Seele legte.
Nach und nach reifte ein neuer Plan in ihm heran, ein Plan, der Strafe und Tod vorsah, nicht nur für einen, sondern für viele. Er brauchte zwei Waffen. Eine konnte er selbst herstellen, und die andere ließ sich beschaffen, mithilfe der ersten, denn er wusste, wo sich ein ganzes Arsenal befand.

    Benjamin schnappte nach Luft. »Ich weiß, wo sich das Arsenal befindet !«, stieß er hervor.
    Dichte Nebelschwaden zogen über den Fluss, und Louise schoss mit der Pistole auf einen Schuppenkopf, der dicht neben dem Boot aus dem Wasser kam. Zweimal knallte und ruckte die Waffe in ihrer Hand, und dann klickte sie nur noch.
    »Wir könnten neue Munition gebrauchen«, sagte sie und griff wieder nach den Rudern. »Das waren die letzten beiden Patronen.«

    Tief im stählernen, summenden Leib der Maschine gab es einen Raum mit Hebeln, die wie Stacheln und Dorne aus Wänden, Decke und auch einigen Stellen des Bodens ragten. Als sich das große Zahnrad bei den Pendeln der Kohärenz erneut bewegte, auch diesmal nur einen Zahn weiter, entstand eine Öffnung in der Decke, zwischen mehreren Hebeln, die fast bis zum Boden reichten, und ein Teil der Dunkelheit wich aus dem Raum.
    Eine Gestalt stand dort, den Kopf wie nachdenklich zur Seite geneigt, und hob den Blick. Ganz weit oben zeigte sich ein blasser Fleck, ein winziger Ausschnitt des Himmels über dem Ende – oder dem Anfang – des langen Schachtes. Ereignismuster entfalteten sich dort oben, beeinflusst von der Maschine, und die sich entwickelnden Strukturen übten wiederum Einfluss auf die Bewegungen von Zahnrädern und Wellen aus.

    Alles hing zusammen; alles war miteinander verbunden.
    Eine Zeit lang stand die Gestalt still und schien dem Summen der Maschine zu lauschen. Dann streckte sie die Hand nach einem der langen Hebel aus, die aus der Wand vor ihr ragten, und zog ihn nach unten.

Das Arsenal

43
    Die Sonne hing blass eine Handbreit über den Dächern der Stadt, in Morgendunst gehüllt. Die sieben Hügel ragten wie Buckel aus dem urbanen Rücken, stumm, unbewegt und ohne ein einziges Licht.
    »Die Stadt scheint gestorben zu sein«, sagte Benjamin leise. So fühlte es sich an, als läge die Stadt tot vor ihnen. Etwas in ihr hatte sich verändert; Benjamin nahm es so deutlich wahr wie einen scharfen Brandgeruch in der Luft.
    »Sie hat nie gelebt«, erwiderte Louise und zog die Ruder ins Boot, als sie eine der Anlegestellen erreichten. Zu beiden Seiten des Flusses ragten alte Lagerhäuser auf, die Fenster leer und dunkel,

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