Die Stadt - Roman
stiegen. »Was ist mit den anderen?«
»Ich weiß nicht, Ben.« Louise korrigierte den Kurs des Bootes, als sie merkte, dass die Strömung sie zum rechten Ufer trieb. »Ich habe niemanden gefunden, weder Kowalski noch Agostino oder einen der anderen. Es lagen auch keine Trümmerstücke des Ballons in der Nähe.«
Benjamins Beine zuckten, und Louise versuchte sie festzuhalten, nachdem sie die Ruder ins Boot gezogen hatte.
»Hör auf damit, Ben! Du bringst uns zum Kentern!«
»Es geht wieder los«, stöhnte Benjamin. »Sprich mit mir, Louise. Sprich weiter!«
Aber selbst wenn sie sprach – ihre Stimme erreichte ihn nicht mehr. Benjamin verdrehte die Augen, und sein Blick richtete sich nach innen.
Diesmal trug Townsend keinen weißen Kittel, sondern einen grauen Anzug, und er führte Benjamin durch einen für ihn neuen Teil des Gebäudes: die Bibliothek.
»Sie sind ein sehr belesener Mann, nicht wahr?«, fragte Townsend. Der Anzug ließ ihn noch mehr wie einen würdevollen Professor aussehen.
»Ich mag Bücher«, sagte Benjamin und sah sich um. Lehmbrauner Teppichboden dämpfte ihre Schritte, und leise klassische Musik kam aus Lautsprechern an der Decke. Eine Nocturne von Chopin, erkannte Benjamin.
»Mit wem spreche ich?«, fragte Townsend freundlich, doch es lag Wachsamkeit in seinen Augen.
»Ich bin Benjamin Harthman«, erwiderte Benjamin und wusste, was Townsend meinte.
»Welcher Benjamin Harthman?«
Er gab sich erstaunt. »Der eine, der richtige.«
»Sind Sie verheiratet, Benjamin?«
»Ja.«
»Nennen Sie mir den Namen ihrer Frau.«
»Sie heißt Kattrin.«
»Was sehen und fühlen Sie, wenn Sie an Kattrin denken, Benjamin?«
Er brauchte nicht einmal die Augen zu schließen, um es zu
sehen und zu hören: hohe Baumwipfel, das Rauschen des Winds in ihnen, warmer Sonnenschein, der durch ein Dach aus Blättern filterte; und ein ovales, lächelndes Gesicht, von braunen Locken umschmiegt. Er dachte daran, wie sie sich vor vielen Jahren kennengelernt hatten. Er erinnerte sich an die gemeinsam verbrachten Jahre, an gemeinsam unternommene Dinge und harte Arbeit, an eine sich zuspitzende Krise und die Entscheidung, noch einmal von vorn zu beginnen, den Ballast der Vergangenheit abzustreifen. Sie konnten es schaffen. Sie waren nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt – in wenigen Tagen würde er seinen vierzigsten Geburtstag feiern.
Aber es waren falsche Erinnerungen, und das wusste Benjamin ganz genau, als er seine Eindrücke schilderte. Man hatte sie ihm mit chemisch unterstützter Hypnose und elektromagnetischer neuronaler Stimulation aufgezwungen. Dies alles war inszeniert. Er bewegte sich inmitten von bühnenartigen Kulissen, und fast jeder seiner Schritte gehorchte einer sorgfältig vorbereiteten Choreografie. Vielleicht verbargen sich selbst in den leisen Chopin-Klängen subliminale Signale, die Veränderungen in ihm bewirken sollten, zusammen mit den blauen Tabletten, die er jeden Tag nahm. Und die nicht wirkten.
Das war der eigentlich wichtige Punkt. Die Tabletten wirkten nicht, oder zumindest nicht so, wie es sich Townsend erhoffte. Offenbar ging es ihm um persönlichen Ruhm: Er wollte beweisen, dass eine von ihm entwickelte neue Behandlungsmethode funktionierte. Bestimmt hielt er sich für klug, und der beobachtende und lauernde Teil von Benjamin, der immer noch existierte, hätte ihm sagen können, dass
er in Wirklichkeit dumm und vermessen war. Aber der andere Benjamin, der sich nicht auslöschen ließ, verriet nichts, denn er war klüger als Townsend.
»Von jetzt an steht Ihnen die Bibliothek zur Verfügung, Benjamin. Sie können jederzeit hierherkommen und lesen, wenn Sie möchten.« Townsend machte eine einladende Geste in Richtung der Bücherregale und Sessel. »Nur zu. Wählen Sie ein Buch aus und lesen Sie.«
Benjamin bedankte sich höflich, wie es seiner neuen Rolle entsprach, schritt an den Bücherregalen entlang und dachte: Sie werden ganz genau beobachten, welche Bücher ich auswähle und lese.
Sollten sie nur. Es spielte keine Rolle. Sie würden nicht finden, was in ihm auf der Lauer lag und viel genauer beobachtete als sie.
Er ließ seine Hand vom Zufall leiten, nahm ein Buch, schlug es auf und las:
» … ist mit Lust und Genügen falsch und genießt seine Falschheit mit Lust und Genügen …«
Die Hand des Zufalls übermittelte ihm eine Botschaft und zeigte dabei auf Townsend. Über das Buch hinweg sah Benjamin zu ihm und lächelte ebenso freundlich wie jener Mann, der
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