Die Stadt - Roman
wie ein Professor aussah. Aber hinter diesem Lächeln warteten gefletschte Zähne – wer von ihnen trug das größere Ungeheuer in sich?
Er stellte den Band ins Regal zurück, nahm einen anderen und überließ die Auswahl erneut dem Zufall.
»Diese Scheinheiligkeit, mit der ich mein Vorhaben ausführte, diese Falschheit, von der auf die Dauer der Zeit all meine Worte und Handlungen durchdrungen wurden, werden mir selbst nur einigermaßen verständlich, wenn ich die glühende, seltsame Hoffnung auf Abenteuer in Betracht ziehe, die mich zur Erfüllung meines so lange gehegten Wunsches trieb.«
Er erkannte den Text sofort: »Die denkwürdigen Erlebnisse des Arthur Gordon Pym« von Edgar Allan Poe. Und diesmal deutete der Zeigefinger des Zufalls nicht auf Townsend, der noch immer in der Tür der Bibliothek stand, sondern auf ihn selbst. Dahinter musste der andere Benjamin versteckt bleiben, hinter Schein und Falschheit, nicht in der Hoffnung auf ein Abenteuer, sondern um Mauern zu durchbrechen und das Böse zu bestrafen.
Bald durfte er auch draußen sitzen, auf einer Bank im kleinen Park neben dem Institut, aber Benjamin machte sich nichts vor. Sie behielten ihn die ganze Zeit über im Auge, auch dann, wenn er keine wachsamen Blicke auf sich spürte, und das bedeutete für ihn: Er musste den Plan, der in ihm immer deutlicher Gestalt annahm, auf einmal durchführen, nicht Schritt für Schritt. Inzwischen wusste er, wo sich die benötigten Schlüssel befanden, und er hatte auch herausgefunden, wie er an die Codes gelangen konnte, die er brauchte. In der Bibliothek gab es zwei Computer, die mit dem Intranet des Instituts verbunden waren. Kontrollprogramme überwachten Tastatureingaben und Netzwerkzugriffe, aber sie ließen sich manipulieren, wenn man wusste,
worauf es ankam. Und mit Computern kannte sich Benjamin aus. Zwei seiner Opfer hatte er damit in die Falle gelockt.
Der Gedanke ließ ihn für zwei oder drei Sekunden innerlich erstarren. Er sah die beiden fratzenhaften, blutigen Gesichter vor dem inneren Auge, und fast überraschte es ihn, dass diese Erinnerungen noch existierten. Die Bilder des anderen, neuen Lebens waren deutlicher und näher, mit mehr Einzelheiten und besseren Kontrasten ausgestattet, aber sie waren falsch, das durfte er nicht vergessen. Er musste … sich erinnern. Oh, keine Sorge, ich erinnere mich, flüsterte das Lauernde in ihm, die gefletschten Zähne ein Grinsen. Und wenn du noch so viele Tabletten schlucken musst, und wenn sie dir noch so viele Elektroden an den Kopf kleben, ich bleibe bei dir. Wir sind unzertrennlich, nicht wahr?
Benjamin sah auf die beiden blauen Tabletten in seiner Hand hinab. Townsend und die anderen, sie beobachteten ihn, kein Zweifel. Sie wollten wissen, ob er die Tabletten auch nahm, wenn sie nicht bei ihm waren. Sie wollten wissen, ob er ihnen auch dann gehorchte, wenn sie keine direkte Kontrolle ausübten. Sie wollten wissen, wie weit sie ihn bereits in den neuen Benjamin verwandelt hatten.
Wie dumm ihr seid, dachte Benjamin und schluckte die Tabletten.
»Du solltest sie nicht nehmen, wenn du nicht musst.« Françoise saß neben ihm auf der Bank und blinzelte im Sonnenschein. »Sie verändern dich. Sie machen dich wehrlos, wenn du dich wehren willst.«
Benjamin sah sie überrascht an. Sie saßen oft nebeneinander auf dieser Bank, und manchmal hielten sie sich dabei an
den Händen. Aber die Traurige sprach fast nie und starrte die meiste Zeit über ins Leere. Sie tat ihm leid.
Er hätte ihr gern die Wahrheit gesagt, doch vielleicht befand sich ein Lauscher in der Nähe, hinter einem der Büsche, oder es war ein Richtmikrofon auf ihn gerichtet. »Sie helfen mir«, sagte er deshalb. »Ich habe ein neues Leben bekommen.«
Die Traurige ergriff seine Hand. »Du tust mir nichts. Du bist ein guter Mensch. Aber die anderen sind böse.«
Ihre Worte fühlten sich gut an. Zufrieden saß er neben ihr und dachte daran, dass er ein guter Mensch sein wollte. Wenigstens für Françoise, damit sie weniger traurig war. Aber bevor er Lüge Wahrheit werden lassen und wirklich ein guter Mensch sein konnte, musste er den Bösen töten, der die Traurige noch trauriger machte.
42
Louise setzte ihm eine Flasche an die Lippen, und Benjamin trank gierig. Das Wasser war kalt, aber trotzdem brannte es hinten in seiner Kehle, und es schmeckte seltsam.
»Es ist Flusswasser«, sagte Louise, als ahnte sie seine Frage. »Ich habe nichts anderes.« Nach einer kurzen Pause fügte sie
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