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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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die Mauern grau wie die Dunstschleier über der Stadt und an den Hügelflanken. »Wir könnten den Weg fortsetzen, Ben. Der Nebel ist zurückgewichen und stellt keine Gefahr mehr dar. Der Fluss strömt mitten durch die Stadt. Wir könnten uns von ihm am Elektrizitätswerk vorbeitragen lassen und bei der Bogenbrücke an Land gehen. Von dort aus wäre es nicht mehr weit bis zum Hospital.«
    »Es geht mir besser.«
    »Du bist noch immer geschwächt«, sagte Louise skeptisch
und band das Boot fest. »Und wenn du wieder einen Anfall kriegst …«
    »Ich erhole mich, seit wir wieder in der Stadt sind. Sie übt einen heilenden Einfluss aus.« Das stimmte: Benjamin spürte, wie seine Kräfte zurückkehrten. Aber er fühlte auch, dass weitere Erinnerungen auf eine Gelegenheit warteten, in ihm aufzusteigen. Er wollte sich nicht erneut von ihnen überwältigen lassen und hoffte, dass es ihm in der Stadt gelang, sich unter Kontrolle zu halten. »Außerdem befindet sich das Arsenal in der Nähe.«
    »Das glaubst du.«
    »Ich weiß es.«
    Sie kletterten die kurze Leiter zum Steg hoch, der vom Ufer aus etwa ein Dutzend Meter weit in den Fluss ragte. An den Kais in der Nähe lagen Frachtkähne und sogar einige Fischkutter. Rostfladen hingen an den Rümpfen, und die Namen der Schiffe waren längst unleserlich geworden. Benjamin blieb kurz stehen und streckte die Hand nach einem Seil aus, das zur Takelage eines Segelschiffes gehörte. Als er es berührte, löste es sich unter seinen Fingern auf.
    »Der Stadt scheint nicht daran gelegen zu sein, die Schiffe und Lagerhäuser zu erhalten«, sagte Benjamin. »Ich frage mich, ob hier jemals Menschen gearbeitet haben. Sind Fischer mit diesen Kuttern aufgebrochen? Gab es Stauer, die die Frachtkähne be- und entladen haben?«
    Louise zuckte die Schultern.
    Benjamin sah an sich herab – seine Kleidung war zerrissen und schmutzig. Die Reste des Parkas hingen wie Lumpen an seinen Schultern. Er griff in die Innentasche, holte das aus der Bibliothek stammende Buch hervor und öffnete es. Du musst
dich erinnern, hatte darin gestanden, und: Denk an die Assoziationen. Vielleicht waren neue Worte hinzugekommen, aber Flusswasser hatte die Buchstaben, aus denen sie bestanden, zerlaufen lassen. Benjamin klappte das Buch zu und steckte es wieder ein.
    »Hast du ein Notquartier hier irgendwo in der Nähe?«, fragte er, als sie die Anlegestelle hinter sich ließen und über den Uferdamm schritten, vorbei an Kuttern und Kähnen wie Relikte aus einer fernen Vergangenheit.
    »Ich habe eine kleine Bude drüben beim Stadion, aber das ist zehn Kilometer von hier entfernt«, sagte Louise. »Und außerdem gibt es dort keine Vorräte. Wir brauchen zu essen und zu trinken, Ben.«
    Er blieb stehen, neben dem dunklen Eingang eines Lagerhauses, von dessen Mauern der Putz bröckelte. Ein Türflügel hing schief in den Angeln, der andere fehlte. »Du hast gesagt, dass ich tot gewesen bin. Fast eine Woche lang. Und du hast Proviant erwähnt.«
    »Getrocknetes Fleisch«, erwiderte Louise und sah sich um. Alles blieb still, bis auf ein gelegentliches Plätschern vom Fluss. »Von Kreaturen, nehme ich an. Der arme Kerl hatte sich auf einem anderen Baum eine Art Räucherkammer eingerichtet. Ich konnte nur hinüber, wenn sich der Nebel verzog.«
    Benjamin erlebte einen neuen Moment der Klarheit. Fenster schienen sich in seinem Innern zu öffnen, ließen Licht und frische Luft ins staubige Zwielicht seines Geistes. »Wir brauchen Lebensmittel«, sagte er und sah plötzlich alles ganz deutlich vor sich, wie einen von Lampen erhellten Weg, der durch die Finsternis der Ungewissheit führte. »Ich kenne einen Ort, wo wir sie bekommen können.«

    »Wenn du glaubst, dass Hannibal Mitleid hat und uns einen Besuch im Supermarkt gestattet …«
    »Wir fragen ihn nicht um Erlaubnis.« Benjamin atmete tief durch. »Hier ist der Plan. Wir finden das Arsenal und bewaffnen uns dort. Dann machen wir uns schnurstracks auf den Weg zum Supermarkt und verschaffen uns Zugang, mit Gewalt wenn nötig. Wir nehmen uns, was wir brauchen, Proviant, Werkzeuge und so weiter, stoßen ins Labyrinth vor und verlassen die Stadt über die von Petrow entdeckte Route siebzehn.«
    Louise lächelte schief. »Es klingt einfach, aber die Schwierigkeiten fangen schon beim Arsenal an. Ich habe es lange gesucht, Ben. Weil ich die Waffen für unbeschränkten Zugang zum Supermarkt eintauschen wollte. Ich war auf der Suche danach, als ich dich fand, erinnerst du dich?

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