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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Route siebzehn und so. Hier ist Endstation, Ben.«
    Offenbar war irgendwann ein Teil der Decke eingestürzt, und vielleicht hatte auch der Boden nachgegeben. Durch einsickerndes Wasser war anschließend ein kleiner See entstanden, in dem die Schienen verschwanden. Allerdings: Ein solcher See entstand nicht in ein paar Tagen. So etwas dauerte eine Weile.
    »Das Labyrinth ist gar kein Labyrinth, sondern eine Sackgasse«, betonte Louise und setzte die Dose erneut an die Lippen.
    »Petrows Gruppe muss viel weiter als nur bis hierher ins Tunnelsystem vorgestoßen sein.« Benjamin griff nach der Lampe. »Es muss einen Weg geben.«

    Er leuchtete durch die Höhle. Die Tunnelöffnung auf der anderen Seite wirkte wie ein aufgerissenes Maul, und mit etwas Phantasie wurden die Schienen zu einer bis ins Wasser ausgestreckten Zunge.
    Das Maul knurrte.
    Aus dem Augenwinkel sah Benjamin, wie Louise neben ihm erstarrte, die Bierdose noch immer erhoben. So hörte es sich an: wie ein Knurren. Aber als sich das Geräusch wiederholte, wurde ein fernes Kratzen und Knarren daraus.
    »Wie weit sind wir gekommen, was meinst du?« Benjamin hielt wieder die Finger vor das Glas der Taschenlampe. Es wurde dunkler in der Höhle.
    Louise schauderte und ließ die Bierdose wie in Zeitlupe sinken. »Ein paar Kilometer?«
    »Ich schätze, der Tunnel wirkt wie ein natürlicher Verstärker. Man hört darin auch ferne Geräusche.«
    Das Kratzen wiederholte sich und klang nicht mehr ganz so weit entfernt.
    »Was nähert sich da?«, fragte Louise und wich unwillkürlich zurück. Weit kam sie nicht – sie stieß mit dem Rücken an den Schuttwall.
    »Ich glaube, Hannibal und seine Leute haben eine zweite Draisine auf die Gleise gestellt«, sagte Benjamin. »Vielleicht gab es noch eine, irgendwo in der Lagerhalle.« Er stand auf und leuchtete.
    Das Wasser bewegte sich.
    Es war ihm schon zuvor aufgefallen, aber er hatte nicht darauf geachtet. Es gab eine leichte Strömung in Richtung der linken Höhlenecke, und dort entdeckte er im Licht der Taschenlampe ein blaues Seil. Es war an einem in die Betonwand
getriebenen Haken befestigt und außerdem um einen in der Nähe liegenden Felsblock geschlungen.
    »Der Weg geht unter Wasser weiter«, sagte Benjamin. »Siehst du? Petrow hat ihn mit dem blauen Seil dort drüben markiert. Wenn wir tauchen, gelangen wir auf die andere Seite des Schuttwalls.«
    »Tauchen? Ohne zu wissen wohin?« Louise versuchte noch weiter zurückzuweichen. »Ohne mich, Ben. Ohne mich.«
    »Willst du hier warten, bis Hannibal kommt?«
    Wieder ertönte das Kratzen aus dem Tunnel auf der anderen Seite des kleinen Sees, diesmal begleitet von einem Quietschen.
    »Würde die Taschenlampe unter Wasser funktionieren?«
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte Benjamin und steckte die Sachen ein, die er zuvor auf den Boden gelegt hatte. Nur die Zwieback- und Keks-Päckchen ließ er liegen; damit konnten sie ohnehin nichts anfangen. »Es wäre sicher besser, wenn ich vorher die Batterien herausnehme.«
    »Warte!«, stieß Louise hervor, als er sich daranmachte, die Taschenlampe aufzuschrauben. »Vielleicht habe ich vergessen, dich darauf hinzuweisen. Ich … fürchte mich vor der Dunkelheit.«
    »Was?« Er sah sie groß an, die Finger noch immer vor dem Glas der Lampe. Louises Gesicht war ein bleiches Oval, umgeben von Finsternis.
    »Als Kind bin ich manchmal eingesperrt gewesen.« Louise senkte den Kopf. »In einem kleinen, dunklen Keller. Obwohl meine Mutter genau wusste, dass ich in dunklen, geschlossenen Räumen einen Koller kriege. Ich glaube, ich
habe damals stundenlang geschrien und mir an der Tür die Finger blutig gekratzt. Seit damals fürchte ich mich vor der Dunkelheit.«
    Benjamin musterte sie und nickte langsam. »Deshalb warst du nicht begeistert von der Idee, die Stadt durchs Labyrinth zu verlassen.«
    »Es ist einer der Gründe, ja.«
    »Vielleicht sind es falsche Erinnerungen, so wie meine.«
    »Nein, das glaube ich nicht. Sie fühlen sich nicht falsch an.«
    Benjamin ersparte sich den Hinweis, dass auch seine Erinnerungen zu Anfang nicht das Gefühl von Falschheit vermittelt hatten. Für solche Diskussionen blieb ihnen keine Zeit – die aus dem Tunnel auf der anderen Seite des kleinen Sees dringenden Geräusche wurden lauter, und es hörte sich tatsächlich immer mehr nach einer zweiten Draisine an.
    »Wir haben keine Wahl, Louise. Du musst da durch.«
    Sie rutschte zur Seite und schüttelte so heftig den Kopf, dass Tropfen aus ihrem

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