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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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stärker.
    »Also los«, sagte Benjamin.
    Sie holten Luft und tauchten.
    Die Wasseroberfläche hatte sich noch nicht wieder geglättet, als im Tunnel auf der anderen Seite des kleinen Sees eine Draisine mit mehreren Männern erschien, die mit ihren Taschenlampen in die Höhle leuchteten.

50
    Es war kalt und finster, und Benjamin fühlte sich von der Strömung erfasst, als er mit der linken Hand nach dem Seil griff. Mit der rechten hielt er Louises Unterarm dicht über der verknoteten Schnur, die sie beide miteinander verband. Ihr Gesicht sah er nicht. Nach zwei oder drei Metern sah er überhaupt nichts mehr, und wie beim ersten Mal schloss er die Augen, konzentrierte sich ganz auf die übrigen Sinne. Er drückte Louises Arm, um ihr zu signalisieren, dass alles in Ordnung war.
    Der überflutete Tunnel nahm sie auf, und um sie herum herrschte stockrabenschwarze Finsternis. Der Parka schien sich in Blei zu verwandeln, doch jetzt gab es für Benjamin keine Möglichkeit mehr, sich von dieser Last zu befreien; er musste damit zurechtkommen.
    Sie schwammen durch den Tunnel, und Louise ließ sich von Benjamin leiten, der sich seinerseits vom Seil die Richtung weisen ließ. Als nach einer halben Minute noch immer Felsen oder Beton den Weg nach oben versperrten, wurde Louise unruhig, und in Benjamin wuchs die Sorge. Er wusste nicht, wie lang der überflutete Tunnel war. Er hatte angenommen, dass es direkt hinter dem Schuttwall eine Möglichkeit geben würde, an die Wasseroberfläche zurückzukehren, aber vielleicht hatte der Boden über eine Länge von Dutzenden oder gar Hunderten Metern nachgegeben, woraufhin ein ausgedehntes überflutetes Höhlensystem entstanden war. Das kann nicht sein, dachte er, während er spürte, wie ihm die Luft knapp wurde. Er glaubte nach wie vor, dass Petrow und seine Gruppe diesen Weg genommen hatten, und er erinnerte
sich nicht daran, bei ihrer Rückkehr Sauerstoffgeräte oder dergleichen gesehen zu haben.
    Er begann damit, dem Seil in der Strömung nicht nur zu folgen, sondern sich daran entlangzuziehen.
    Plötzlich zappelte Louise, und ihr Arm rutschte ihm aus der Hand. Es folgte ein kurzer Ruck, als der Zwirn riss oder sich von Louises Handgelenk löste. Wie das möglich war, blieb Benjamin ein Rätsel – vielleicht hatte das Wasser die Schnur aufgeweicht, oder der Knoten hatte sich gelöst.
    Er griff in die Dunkelheit, doch Louise war nicht mehr da.
    Benjamin schätzte, dass ihm noch etwa zwanzig Sekunden blieben – länger konnte er die Luft nicht anhalten. Er ließ das Seil los, stieß sich mit den Füßen von der Wand ab und schwamm mit ausgestreckten Armen in die Mitte des Tunnels. Mit dem Kopf stieß er an die Decke, so heftig, dass er fast den Mund geöffnet und dem Atemreflex nachgegeben hätte, und nur einen Moment später bekam er ein Bein zu fassen, das nach ihm trat, als hielte es ihn für einen Angreifer. Benjamin schloss die Hand fest um die Fußknöchel, zog die Gestalt, der das Bein gehörte, zu sich und ruderte gleichzeitig mit dem linken Arm, damit sie in der Strömung noch etwas schneller vorankamen. Der Drang, Luft zu holen, wurde immer stärker, und der Druck in Benjamins Brust nahm zu, dehnte sich in den Kopf aus. Er glaubte, platzen zu müssen, wenn er nicht gleich den Mund öffnete.
    Nach oben. Er hielt es einfach nicht länger aus – er musste nach oben und atmen!
    Er zog Louise mit sich, nicht am Bein, sondern an der Jacke, die sie noch immer trug, und für ein oder zwei schreckliche Sekunden befürchtete er, in der Finsternis die Orientierung
verloren zu haben und gar nicht nach oben zu schwimmen, sondern nach unten, sich noch weiter von der Luft zu entfernen – wenn es hier welche gab.
    Doch dann durchstieß sein Kopf die Wasseroberfläche, und der erste Atemzug brachte wunderbare Erleichterung – der Druck in ihm ließ abrupt nach, und die hungernde Lunge saugte sich voll Luft.
    In der Nähe keuchte Louise. Sie schlug nach ihm, als er sie festzuhalten versuchte, schluckte Wasser und hustete.
    »Wir haben es geschafft!«, brachte er schwer atmend hervor. »Hörst du? Wir sind auf der anderen Seite des Schuttwalls. Au!« Eine Faust traf ihn an der Schläfe.
    Irgendwie schaffte er es, sie zu packen, und dann schwamm er nach links, in der Hoffnung, dort bald auf ein Ufer zu treffen. Es blieb völlig dunkel um sie herum, so finster wie unter Wasser, und schließlich berührte Benjamin etwas, das sich nach einer Felskante anfühlte.
    »Hier«, sagte er, nahm

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