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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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großen Handhebel, Benjamin auf der einen Seite und Louise auf der anderen, und begannen zu pumpen. Quietschend und knarrend setzte sich der Wagen aus rostigem Eisen und altem Holz in Bewegung. Zwei oder drei Meter weit rollte er und blieb dann so plötzlich stehen, dass Louise taumelte und fiel. Sie stand sofort wieder auf.
    »Was ist los?«
    Benjamin sprang von der Draisine herunter, ging nach hinten, leuchtete mit der Taschenlampe und fand eine Kette.

    »Hannibals Leute haben das Ding an die Kette gelegt.«
    Geräusche kamen aus dem dunklen Schacht mit der fast hundert Stufen langen Treppe, ein Klappern und das Brummen von Stimmen.
    »Sie haben die Tür aufgebrochen«, sagte Louise.
    Benjamin zerrte an der Kette. »Verdammtes Ding. Wir brauchen eine Stange oder was in der Art.« Er betastete seine Taschen. »Was hast du aus dem Supermarkt mitgebracht?«
    Louise begann damit, die Taschen ihrer Jacke und der Hose auf der Draisine zu entleeren. Eine kleine Zange befand sich unter den zum Vorschein kommenden Objekten, und sie warf sie Benjamin zu. Er steckte sie in ein Kettenglied und zog und zerrte, mit dem Ergebnis, dass sich die Zange verbog. Er warf sie beiseite.
    »Wie ist die Kette gesichert?«, fragte Louise und kam zu ihm.
    Benjamin leuchtete auf ein Vorhängeschloss. »Damit.« Lautere Geräusche tönten von der Treppe. Benjamin sah besorgt zur dunklen Schachtöffnung in der Wandnische. »Es hätte keinen Sinn, zu Fuß zu fliehen. Sie würden uns nach kurzer Zeit mit der Draisine einholen.«
    Louise zog an ihrer dünnen Halsschnur, holte den daran hängenden kleinen Beutel hervor, den Benjamin schon einmal gesehen hatte, und entnahm ihm einen improvisierten Dietrich. Damit stocherte sie in dem Vorhängeschloss herum, während Benjamin mit wachsender Unruhe wartete. Inzwischen konnte man einzelne Stimmen hören.
    »Louise …«
    »Stör mich nicht!«

    »Es wäre nett, wenn du dich etwas beeilen könntest. Wir kriegen gleich Besuch.«
    Benjamin sah sich nach etwas um, das sich als Waffe verwenden ließ, aber den einzigen geeigneten Gegenstand hielt er bereits in der Hand: die Taschenlampe.
    Es klickte, und Louise sagte zufrieden: »Na bitte.«
    Sie sprangen wieder auf die Draisine und betätigten den großen Handhebel, der sich zuerst nur sehr schwer bewegen ließ. Träge rollte das schwere Gefährt über die Schienen, und als sie sechs oder sieben Meter zurückgelegt hatten, erschienen mehrere Gestalten hinter ihnen auf den Gleisen.
    Benjamin schaltete die Taschenlampe aus, und vor ihnen wurde es von einem Augenblick zum anderen stockfinster. Steine flogen, und einer von ihnen streifte ihn an der Schläfe.
    »Duck dich!«
    Die Lichtkegel von Taschenlampen folgten ihnen, und mehrere Gestalten liefen über den Schotter zwischen den Gleisen, aber Benjamin und Louise legten sich richtig ins Zeug, und die Draisine wurde schneller, quietschte und knarrte durch die Dunkelheit.
    »Wir kriegen euch!«, ertönte es hinter ihnen. »Früher oder später kriegen wir euch!«
    »Wir haben nichts getan!«, rief Benjamin zurück. Die Antwort bestand aus weiteren Steinen.
    Ein oder zwei weitere Minuten lang hoben und senkten sie den Hebel mit ganzer Kraft und gerieten dabei ins Schwitzen. Sie rollten an dem Waggon auf dem Abstellgleis vorbei, dessen Fenster von innen verklebt waren und auf dessen hinterer Sitzbank, in der Ecke, zwei angekleidete Puppen saßen, eng umschlungen und mit aufgemalten weinenden Gesichtern.
Benjamin schaltete die Taschenlampe wieder ein und leuchtete auch über den Bahnsteig auf der rechten Seite, über die Uhr ohne Zeiger und den Durchgang hinter der geplatzten Leuchtstoffröhre – die dortige Mauer, hinter der vielleicht eine Treppe nach oben führte, war intakt. Der Bahnsteig verschwand hinter ihnen in der Dunkelheit, und voraus erschienen die Reste der Barrikade rechts und links neben den Schienen, bestehend aus Latten, Brettern, Stangen und verbeulten Tonnen. Die Draisine war so schnell geworden, dass Benjamin nicht genug Zeit blieb, die Reste des alten Maschinengewehrs in dem Durcheinander zu erkennen. Oder vielleicht hatten sie sich ebenfalls aufgelöst, wie alle anderen Waffen in der Stadt.
    Das brachte Benjamin auf einen Gedanken.
    »Ich habe es gesehen«, sagte er, als Louise den Handhebel losließ und sich schnaufend setzte. »Wie all die Waffen verschwunden sind. Nicht nur im Supermarkt, sondern überall in der Stadt. Auch im Arsenal.«
    »Leuchte nach vorn«, sagte Louise, als sich

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