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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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nassen Haar flogen.
    Benjamin legte die Taschenlampe eingeschaltet neben sie. »Hier hast du die Lampe«, sagte er und streifte den Parka ab; das Wasser machte ihn sehr schwer. »Ich sehe mir die Sache an, und anschließend entscheiden wir, einverstanden?«
    »Ohne Licht kannst du da unten überhaupt nichts sehen.«
    »Ich verschaffe mir einen Eindruck von der Lage«, sagte Benjamin geduldig. Er ging über den Uferstreifen, bis er das Seil erreichte, und an der Seite des Felsens fand er eine Markierung, die er vorher nicht gesehen hatte, einen nach unten deutenden Pfeil.

    »Ich bin gleich wieder da!«, rief er Louise zu, holte tief Luft und sprang.
    Dunkles, kaltes Wasser schloss sich um ihn.
    Zuerst gab es noch ein wenig Licht, in dem er Luftblasen aufsteigen sah, aber es verschwand schnell, als er tiefer sank und sich dabei mit der linken Hand am Seil festhielt. Nach wenigen Metern sah er gar nichts mehr und schloss die Augen, um sich ganz auf den Tastsinn zu konzentrieren. Die rechte Hand strich über Beton und Felsen, fühlte eine stärker werdende Strömung und griff ins Leere – ein Tunnel. Petrow und seine Expedition konnten nur diesen Weg genommen haben. Der Zugang zu Route siebzehn musste irgendwo auf der anderen Seite des Schuttwalls liegen, am Ende des überfluteten Tunnels. Benjamin zog sich an dem Seil zurück.
    Als er wieder auftauchte, versuchte er sich zu erinnern. Vor dem inneren Auge sah er noch einmal Petrow und die anderen, als sie in jener Nacht aus dem Labyrinth zurückkehrten, mit Rinehard auf einer aus Stangen und Decken improvisierten Bahre. Waren sie bei ihrer Rückkehr nass gewesen ? Aufmerksam besah er sich das Erinnerungsbild und glaubte zu erkennen, dass Petrow nasse Kleidung getragen hatte, die anderen aber nicht. War der Expeditionsleiter alleine durch den Tunnel geschwommen?
    »Was ist?«, rief Louise, als Benjamin wieder aus dem Wasser stieg. »Was hast du gefunden?«
    Die nassen Sachen würden ein Problem sein, aber erst, nachdem sie den überfluteten Tunnel hinter sich gebracht hatten. Eins nach dem anderen, dachte Benjamin.
    »Das Seil markiert den Weg zur anderen Seite des Schuttwalls«, sagte er und stapfte über den Uferstreifen. Louise
hockte mit angezogenen Beinen da, die Arme um die Knie geschlungen, und zitterte. »Wir müssen ihm nur folgen. Es ist nicht weit. Du schaffst es bestimmt.«
    Den letzten Worten gab er mehr Zuversicht, als er empfand. Er wusste nicht, wie lang sie unter Wasser bleiben mussten und wie stark die Strömung wurde, möglicherweise so stark, dass sie nicht zurückschwimmen konnten. Vielleicht, dachte Benjamin, irre ich mich und Petrow und seine Leute haben einen ganz anderen Weg genommen, eine Abzweigung im Tunnel, an der wir vorbeigerast sind. Andererseits … Warum dann das Seil?
    Das Klappern und Quietschen aus dem Tunnel war jetzt bedrohlich nah.
    »Wenn wir Hannibal alles erklären … Warum sollte er uns nicht glauben?«, fragte Louise und sah zu Benjamin auf. Ihre Augen enthielten eine Mischung aus Trotz und Verzweiflung.
    »Weil er uns nicht glauben will«, sagte Benjamin und hörte die Wahrheit in seinen Worten. »Weil er einen Schuldigen sucht, jemanden, den er für alles verantwortlich machen kann.«
    »Verdammt«, zischte Louise und stand auf. »Verdammt.«
    Benjamin holte aus den Parkataschen die Rolle Schnur hervor. »Wir binden uns aneinander, damit wir uns unter Wasser nicht verlieren«, sagte er und knüpfte das Ende des Stricks um sein rechtes Handgelenk. Dann rollte er einen Meter ab und wollte die Schnur durchreißen, was sich jedoch als sehr schwer erwies.
    »Die Zange«, sagte Louise. »Die Zange, die ich dir gegeben habe …«

    Schnell lauter werdendes Rasseln kam aus dem Tunnel, und es war nicht mehr nur schwarz darin. Erstes Licht zeigte sich in der Finsternis.
    »Sie hat sich an der Kette verbogen.«
    »Aber sie verbiegt sich bestimmt nicht an einer Schnur.«
    »Ich hab die Zange weggeworfen.«
    »Du hast sie …« Louise schüttelte den Kopf.
    Benjamin biss so fest, dass die Zähne schmerzten, und schließlich gab die Schnur nach. Er band sie um Louises linkes Handgelenk, nahm die Taschenlampe, schraubte sie auf und zog die beiden Batterien heraus.
    Es wurde dunkel, aber nicht ganz. Ein schwaches Glühen kam aus dem Tunnel, gerade genug, damit sie die Umrisse des Schuttwalls, des Uferstreifens und der Betonwände erkennen konnten. Benjamin und Louise eilten zum Seil und traten dort ins kalte Wasser.
    Louise zitterte

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