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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Kerzenscheins, besann er sich auf seine Erinnerungen, ob wahr oder falsch, und fühlte ganz deutlich, ohne den Hauch eines Zweifels, dass er Spinnen immer verabscheut hatte. Und dann hatte er eine gesehen, im ersten Keller der Stadt im Jenseits, den er betreten hatte. Obwohl es hier nur Menschen gab, und ein paar Pflanzen, die aber nur an drei Orten wuchsen. Ein Zufall? Oder steckte mehr dahinter? Benjamin neigte immer weniger dazu, an Zufälle zu glauben. Laurentius’ Hinweis, dass alle Seelen miteinander verbunden waren, führte ihn zu der Frage, ob es vielleicht noch andere Verbindungen gab.
    »Warum bist du plötzlich so still?«, fragte Louise nach einer Weile. »Ich mag es nicht, wenn du so still bist.« Sie schauderte. »Dann kommt mir die Dunkelheit noch dunkler vor, und die Wände scheinen näher zu kriechen.«
    »Ich hab an die Spinne gedacht«, sagte Benjamin.
    »Im Ernst?« Sie sah kurz zur Seite, und plötzlich kicherte sie. »Ich glaube, du spinnst.«
    Benjamin lachte leise, und ein Teil der Anspannung, die ihm bis eben gar nicht richtig bewusst gewesen war, fiel von ihm ab.
    Voraus wurde der Tunnel breiter, und in einer Nische, die
wie eine Haltebucht wirkte, obwohl es hier weder Schienen noch ein Gleisbett gab, fanden sie mehrere Kunststoffbehälter und eine große Kiste. An der Wand bildeten verblasste Schriftzeichen unleserlich gewordene Worte. In einer Ecke standen mehrere Flaschen aus Plastik, und zwei von ihnen enthielten Wasser.
    Louise kramte in den Behältern. »Kleidung und Decken«, sagte sie. »Vielleicht finden wir saubere Sachen in unserer Größe. Lass uns hier Pause machen, Ben.«
    Er nickte geistesabwesend und sah sich im Licht der Kerze um, die Louise auf den Boden gestellt hatte. Weiter vorn, wo sich der Tunnel fortsetzte, wichen die Betonwände erneut Felsgestein. Auf der linken Seite, dicht unter der Decke, entdeckte Benjamin eine dunkle, vergitterte Öffnung und dahinter einen Schacht, der zumindest die ersten ein oder zwei Meter waagerecht zu verlaufen schien. Welchem Zweck er diente und warum er vergittert war, blieb Spekulationen überlassen.
    »Fisch in Dosen!«, rief Louise. »Magst du Fisch in Dosen, Ben? Und Corned Beef. Und Bohnen mit Thunfisch.« Sie hatte sich über die Kiste gebeugt und ließ es darin klappern. »Das hier ist fast wie im Supermarkt. Und Medizin! Ich habe eine Flasche Medizin gefunden, Ben!«
    Sie schraubte sie auf und nahm einen Schluck. »O ja, da fühlt man sich gleich besser, Emily sei’s gedankt.«
    »Ich schätze, die Petrow-Expedition hat dies hier als eine Art Basislager benutzt«, sagte Benjamin, nahm die Flasche von Louise entgegen und trank. Die leicht trübe Flüssigkeit hinter dem klaren Glas brannte noch mehr in der Kehle als Emilys gewöhnliche Medizin. Vielleicht war dies eine spezielle
Arznei, für schwere Fälle bestimmt. »Aber woher stammt die Kiste, Louise? Sie ist fast zu groß für den engen Schacht, durch den wir geklettert sind. Und die Konserven, die Medizin hier und das Wasser in den Plastikflaschen dort … Ich nehme an, das alles ist nicht so alt wie die Schriftzeichen an der Wand. Jemand war vor der Petrow-Expedition hier.«
    Louise war dabei, sich umzuziehen. Völlig nackt stand sie da und streifte einen Slip über, der ihr etwas zu groß war, dann eine schwarze Drillichhose und darüber einen dicken grauen Wollpullover. Wohlig strich sie über die Ärmel. »Kratzt ein wenig, ist aber warm.«
    »Die Kunststoffbehälter und die Kiste sind relativ neu hier«, fuhr Benjamin fort. »Aber die Schrift an der Wand ist alt, viele Jahre, vielleicht viele Jahrzehnte. Jemand anders hat diesen Weg genommen, lange vor Petrow und seinen Leuten. Und hast du das Gitter dort oben gesehen? Wohin führt der Schacht? Er ist zu schmal für einen erwachsenen Menschen.«
    »Komm und setz dich, Ben.« Louise breitete eine Decke auf dem Boden aus. »Lass uns essen und Medizin trinken. Und dann können wir endlich schlafen.« Als Benjamin zögerte, fügte sie hinzu: »Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor ich nicht geschlafen habe. Hannibal hat die Verfolgung bestimmt längst aufgegeben, und wir brauchen beide Gelegenheit, neue Kräfte zu sammeln.«
    Benjamin setzte sich zu ihr, und sein Blick ging erneut zu den verblassten, unleserlich gewordenen Schriftzeichen an der Wand. Einige Sekunden lang wartete er darauf, dass sie sich neu anordneten, wie die Schnörkel, Punkte und Linien, die für ihn plötzlich zu entzifferbaren Wörtern wurden,

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