Die Stadt - Roman
aber
sie veränderten sich nicht – ihre Botschaft blieb in der Vergangenheit verloren.
Sie tranken und aßen, und Benjamin staunte über die Mengen, die Louises Magen aufnehmen konnte. Je mehr sie trank, desto mehr redete sie, und ihre Worte, die nicht alle einen Sinn ergaben, hielten die Stille auf Distanz, trieben sie in den dunklen Tunnel zurück. Aber schließlich, als die Flasche mit der Medizin fast leer war, gab Louise ihrer Erschöpfung nach, kroch unter die zweite Decke, die sie zuvor ausgebreitet hatte, legte den Kopf auf einen der beiden Rucksäcke und schlief sofort ein.
Stille kroch heran, und die Kerze brannte mit fast unbewegter Flamme.
Benjamin brachte es nicht fertig, sie auszupusten – Louise sollte Licht haben, wenn sie die Augen öffnete. Für eine Weile hing er seinen Gedanken nach, und einige von ihnen gefielen ihm nicht. Dann streckte er sich neben Louise aus, lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen und schloss die Augen.
Fast sofort begann der Traum.
Er konnte die Augen nicht öffnen. Sosehr er sich auch bemühte, die Lider blieben unten, und für einen schrecklichen Moment dachte er, man hätte sie ihm zugenäht. Ich bin betäubt, dachte er dann. Aber nicht ganz, nicht richtig. Ein Teil von mir ist wach. Ich kann hören.
Eine Stimme erklang in der Nähe, war aber gedämpft, wie gefiltert.
»Was du mit ihm machst, ist verboten«, sagte diese Stimme. Benjamin erkannte sie, konnte ihr aber keinen Namen zuordnen. Ein Teil seines Gedächtnisses schien ebenso gelähmt
zu sein wie seine Lider. »Es geht weit über das hinaus, was mit den Behörden vereinbart wurde.«
»Meinst du diesen Narren Kingsley?« Die zweite Stimme war näher, deutlicher und noch vertrauter. Benjamin hatte sie öfter gehört als die andere. »Er versteht überhaupt nichts von diesen Dingen. Der Idiot kann einen chirurgischen Eingriff nicht von subliminaler Manipulation unterscheiden.«
»Unterschätz ihn nicht«, sagte die erste, dumpfere Stimme. Vivian. Plötzlich fiel es ihm ein. Es war Vivian, die da sprach. Und die zweite Stimme … Ein weiterer Name stieg aus der zähen Melasse seiner Erinnerungen. Townsend. Ein Freund. Er war in guten Händen.
Doch dann schlich ein anderer Gedanke durch seinen Kopf. Townsend ist kein Freund, flüsterte dieser Gedanke. Er tut nur so. Er stellt was mit dir an. Er verändert dich. Er schaut in dich hinein und sieht alles.
Wirklich alles?, fragte Benjamin. Und der Gedanke antwortete : fast alles. Aber du musst auf der Hut sein. Vertrau ihm nicht. Er möchte, dass du ihm vertraust, denn das macht es ihm leichter, doch dadurch öffnest du ihm Tür und Tor. Möchtest du zu jemand anderem werden?
Ich weiß nicht …
Du weißt es vielleicht nicht, aber ich weiß es genau. Ich möchte nicht jemand anders sein. Wir möchten es nicht, hast du verstanden?
Benjamin spürte etwas Kaltes am Kopf und versuchte erneut, die Lider zu heben und zu sehen , aber sie waren noch immer starr und steif. Elektroden. Oder Sensoren. Townsend befestigte sie an seinem Kopf.
»Kingsley wird zufrieden sein, wenn wir einen Erfolg vorweisen
können«, sagte Townsend, der falsche Freund. »Nur darauf kommt es an, erfolgreich zu sein. Alles andere spielt keine Rolle.«
»Der Zweck heiligt die Mittel?«
»Worte, Vivian«, sagte Townsend. Irgendwo klickte es, und Benjamin spürte ein Kribbeln, das sich nur schwer lokalisieren ließ. Es ging von seinem Hinterkopf aus und schien über die Innenseite der Schädeldecke zu kriechen. Es fühlte sich seltsam an, wie ein Finger, der sich langsam durchs Gehirn bohrte, auf der Suche nach was? »Es sind nur Worte. Letztendlich zählen vor allem Taten. Und Ergebnisse. Ich werde Kingsley und den anderen bald ein konkretes Resultat vorweisen können, und dann spielt der Weg, der dorthin führte, keine Rolle mehr.« Und etwas lauter: »Benjamin?«
»Ja?« Er konnte sprechen!
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Benjamin Harthman«, sagte er sofort, die Augen noch immer geschlossen.
»Sind Sie verheiratet?«
»Ja«, antwortete Benjamin. »Meine Frau heißt Kattrin, und ich vermisse sie. Ist sie hier?«
»Sie wird bald kommen und Sie besuchen, Benjamin. Aber vorher …« Etwas klickte.
Jäher Schmerz schnitt durch Benjamins Bewusstsein, zerfräste die Gedanken und wirbelte die einzelnen Fragmente wie in einem Sturm durcheinander.
Benjamin schlief und wusste, dass er schlief, aber er konnte nicht aufwachen. Er lag neben Louise unter der Decke, im Licht der mit ruhiger
Weitere Kostenlose Bücher