Die Stadt - Roman
Flamme brennenden Kerze, gefangen
in einem Traum, der Erinnerungen miteinander vermischte, ohne Rücksicht auf die zeitliche Ordnung zu nehmen. Er spürte, wie er sich auf die Seite drehte, und gab sich kurz der Hoffnung hin, dass es ihm vielleicht gelang, die Augen zu öffnen, aber seine Lider schienen auch hier gelähmt zu sein.
Die Bilder eines neuen Traums entfalteten sich und saugten ihn auf.
In der Bibliothek des Instituts gab es zwei PCs, beide über Router mit dem lokalen Netzwerk verbunden, und Benjamin saß an einem von ihnen. Das die Tastatureingaben überwachende Kontrollprogramm hatte er schon am vergangenen Tag ausgehebelt – es genügte eine bestimmte Tastenkombination, um das Neutralisierungsskript aufzurufen. Bevor er die Sicherheitspläne auf den Schirm rief, sah er sich noch einmal um. Die anderen Patienten waren draußen im Garten und genossen den Sonnenschein. Die Bibliothek war leer, bis auf eine alte Frau in der Ecke, die das graue Haar hochgesteckt trug und seit zwei Stunden auf die gleiche Seite in einem Buch starrte, das sie auch noch verkehrt herum hielt.
Benjamin beobachtete sie eine Zeit lang. Trug sie eine Maske? Taxierten ihn hinter dieser Maske zwei wache Augen und registrierten jede seiner Bewegungen? Das ist Paranoia, flüsterte es in ihm. Und deshalb bist du nicht hier, nicht wegen Paranoia.
Als er den Blick durch die Bibliothek wandern ließ, spürte er deutlich, wie sehr sich seine Einstellung inzwischen geändert hatte. Das Institut war kein Krankenhaus, in dem man versuchte, ihm und den anderen – unter ihnen die Alte mit
dem Buch, und die Traurige – zu helfen. Es war eine andere Art von Gefängnis, trotz Sonnenschein und Park. Nicht die greise Frau mit dem grauen Haarknoten trug eine Maske, sondern dieses große Gebäude mit den vielen Zimmern, die alle hell waren, obwohl in manchen etwas Dunkles wartete. Und Townsend, der gutmütige Professor, war kein Freund, obwohl er oft lächelte und wohlwollend klingende Worte an ihn richtete. Er war ein Böser , der Verbotenes anstellte, mit ihm und vielleicht auch mit den anderen.
Er hatte die Traurige in den Tod getrieben.
Diese Erkenntnis ließ ihn für einige Sekunden innehalten. Wie seltsam. Eben hatte er noch gedacht, dass sie draußen auf der Bank saß, dort vielleicht auf ihn wartete. Aber jetzt erinnerte er sich daran, dass sie tot war – die Pfleger hatten sie blutüberströmt aus ihrem Zimmer getragen. Es war einer der Gründe, und vielleicht der Hauptgrund, warum er an diesem Computer saß.
Benjamin drückte Tasten, und der erste Sicherheitsplan erschien auf dem Monitor vor ihm, von den Kontrollprogrammen nicht protokolliert. Zehn Minuten später lehnte er sich zurück und stellte sich das Institut nicht mehr nur als ein Gefängnis vor, sondern auch als eine Festung. Der Eindruck, dass alles um ihn herum eine Maske trug, hatte sich verstärkt. So freundlich die einzelnen Zimmer und Gemeinschaftsräume auch wirkten: Die Eingabe eines bestimmten Codes konnte sie in Zellen verwandeln, Türen und Fenster mit Stahlblenden verschließen. Die dafür notwendigen Befehle unterlagen verschiedenen Sicherheitsprioritäten – es ließen sich nicht nur einzelne Bereiche des Instituts abriegeln, sondern auch das ganze Gebäude.
Benjamin erfuhr einige zusätzliche Details.
Während er noch darüber nachdachte, wie er vorgehen sollte, und wann, spürte er eine neue Präsenz in der Bibliothek. Er beugte sich vor und betätigte wie beiläufig Tasten, die den Sicherheitsplan vom Monitor verschwinden ließen und ein neues Skript starteten. Es reaktivierte die Kontrollprogramme und erweiterte das Protokoll um die Aufrufe harmloser Webseiten.
»Warum gehen Sie nicht nach draußen, Benjamin? Es ist so ein schöner Tag nach all dem Regen, den wir hatten. Und es soll bald noch mehr geben.«
Benjamin drehte sich um und lächelte, aber es war ein falsches Lächeln, denn es trug ebenso eine Maske wie alles um ihn herum. Dies ist eine Welt der Masken, dachte er, als Vivian näher kam. Manche sind dick, andere sind dünn. Gewisse Leute tragen sogar doppelte Masken. Gelegentlich nehmen sie eine ab und behaupten, darunter käme ihr wahres Gesicht zum Vorschein. Aber das stimmt nicht. Niemand zeigt sein wahres Gesicht.
Er fragte sich, was hinter Vivians Maske steckte.
Townsends Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt, aber bei Vivian erschienen alle Konturen wie abgeschliffen. Benjamin schätzte, dass Vivian mindestens zwanzig Jahre
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