Die Stadt - Roman
beschwerst du dich?«, erwiderte Benjamin. »Ich klettere unter dir. Wenn es hier unten ein Monster gibt, so erwischt es mich zuerst.«
»Ha! Dann sehe ich, was mir blüht, verdammt!«
»Louise, ich wäre dir sehr verbunden, wenn du die Kerze so halten könntest, dass mir nicht dauernd Wachs auf den Kopf tropft. Und außerdem … Ist dir aufgefallen, dass du immer öfter ›verdammt‹ sagst?«
»Vielleicht liegt es daran, dass unsere Situation immer beschissener wird, verdammt!«
Benjamin kletterte weiter in die Tiefe, rostige Sprosse um rostige Sprosse, während ihm heiße Wachstropfen auf den Kopf fielen. Ein Ende der Leiter war nicht in Sicht, der Schacht bedrückend eng. Es wurde kühler, und die Feuchtigkeit der Kleidung machte sich auf unangenehme Weise bemerkbar.
»Ich halte nicht mehr lange durch, Ben«, sagte Louise, nachdem sie eine Zeit lang nur geschnauft hatte. »Ich bin fix und fertig. Wir haben eine Menge hinter uns.«
Ich noch mehr, dachte Benjamin. Ich bin tot gewesen.
»Wenn wir das Ende des Schachtes erreichen, suchen wir uns eine geeignete Stelle und machen Rast.«
»Vielleicht hat der Schacht gar kein Ende«, kam Louises Stimme von oben. »Vielleicht geht er immer so weiter, Dutzende, Hunderte von Kilometern. Vielleicht ist es ganz gut, dass alles dunkel ist, denn so sehen wir nicht, dass unsere Bemühungen völlig sinnlos sind …«
»Höre ich da den Beginn einer Hysterie?«, fragte Benjamin.
»Was hast du erwartet? Kühle Sachlichkeit? Ich meine, kühl ist es, sogar kalt.«
Benjamin schätzte, dass sie weitere hundert Meter zurückgelegt hatten, als er plötzlich Boden unter den Füßen spürte. »Ich muss dich enttäuschen«, sagte er nach oben. »Der Schacht hat doch ein Ende.«
Kurze Zeit später stand Louise neben ihm und leuchtete mit der Kerze. Er sah ihr Zittern, gab aber vor, es nicht zu bemerken. Es lag nicht allein an der niedrigen Temperatur. Benjamin versuchte sich vorzustellen, wie dies für jemanden sein musste, der aufgrund eines Kindheitstraumas Angst vor der Dunkelheit hatte und vielleicht auch an Klaustrophobie litt. Leicht war es bestimmt nicht für Louise.
Zwei Tunnel führten aus der Kammer mit der Leiter, der eine direkt vor den Sprossen und der andere auf der rechten Seite. Ein Pfeil an der Wand, im gleichen Gelb gemalt wie das Wort »Emma« an der Elektrolok, deutete zum rechten Gang.
»Wenigstens gibt es Wegweiser«, sagte Louise und deutete in den rechten Tunnel. »Nach dir.«
Der Tunnel durchmaß zuerst kaum mehr als anderthalb
Meter, und im Kerzenschein zeigten sich Wände nicht nur aus Beton, sondern auch aus Felsgestein. Nach vierzig oder fünfzig Metern wurde er breiter, so dass sie nebeneinandergehen konnten.
»Wenigstens brauchen wir nicht zu befürchten, dass sich hier unten Ungeziefer herumtreibt, wie Ratten oder dergleichen«, sagte Benjamin.
»Und wenn schon«, erwiderte Louise leise. Er sah ihren Bewegungen an, wie müde sie war.
»Woran liegt das?«, fragte er. »Ich meine, warum gibt es in der Stadt, und offenbar auch hier, nicht eine einzige Ratte? Wo Menschen leben, gibt es immer welche. Menschen und Ratten gehören praktisch zusammen.« Benjamin dachte kurz daran, welche philosophischen Überlegungen auf dieser Grundlage angestellt werden konnten, gelangte dann aber zu dem Schluss, dass man solche Gedanken nur denken konnte, wenn man sehr erschöpft war.
»Wir ›leben‹ nicht«, sagte Louise. »Wir sind tot.« Nach kurzem Zögern, während sie wie eine Marionette einen Fuß vor den anderen setzte, fügte sie hinzu: »Ratten haben bestimmt keine Seele. Vielleicht ist das der Grund, warum es in der Stadt keine gibt, und auch keine anderen Tiere. Und keine Pflanzen, abgesehen von jenen in den drei grünen Inseln, und von Laurentius’ Baum.« Aus dem Augenwinkel sah Benjamin, wie ein flüchtiges Lächeln über ihre Lippen huschte. »Seine Äpfel sind lecker.«
»Was ist mit der Spinne?«, fragte Benjamin. »Ich meine die Spinne in dem Keller, in dem wir uns vor den Schatten versteckt haben, in der ersten Nacht. Weißt du noch? Du hast sie gesehen, nicht wahr?«
Louise zuckte die Schultern.
»Haben Spinnen Seelen?«
»Das will ich nicht hoffen. Es würde uns auf eine Stufe mit ihnen stellen.«
»Aber du hast sie gesehen, in dem Keller?«
»Ja«, gab Louise widerstrebend zu, und aus irgendeinem Grund machte Benjamin das sehr nachdenklich. Während er in die Dunkelheit vor ihnen starrte, in die Schwärze jenseits des
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