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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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jünger war als Townsend. Er hatte manchmal überlegt, was sie miteinander verband, wo es doch so viele Unterschiede zwischen ihnen gab. Sie war nicht die leibliche Mutter von Muriel, so viel glaubte er inzwischen zu wissen, und auch nicht Townsends Ehefrau. Doch ihre Beziehung war zweifellos nicht nur beruflicher Natur.
    »Ich bin mit Recherchen beschäftigt gewesen«, sagte er
und versuchte, sich das Gesicht mit den blauen Augen, der geraden Nase und den eher dünnen Lippen einzuprägen. Etwas hinderte ihn daran. Vivian war keineswegs unscheinbar, wenn auch nicht hinreißend schön. Er hätte in der Lage sein sollen, sich ein Bild von ihr einzuprägen und es jederzeit abzurufen, um Einzelheiten zu betrachten. Aber die Details des Erinnerungsbilds verschwammen schon, wenn er den Blick auch nur für wenige Sekunden von ihr abwandte.
    Vivian strich ihr halblanges, blondes Haar zurück und sah auf den Schirm. »Buddha«, sagte sie. »Erleuchtung und Erkenntnis.«
    »Vielleicht ist dies mein Uruvela«, erwiderte Benjamin und behielt Vivian im Auge. Wusste sie genug über Buddha, um diesen Hinweis zu verstehen?
    »Und unter welchem Feigenbaum wird Ihnen hier Erleuchtung zuteil?«, fragte Vivian.
    Damit überraschte sie ihn, und für einen seltsamen Moment, der ihm fast die eigene Maske vom Gesicht gerissen hätte, spürte er eine Verbindung zwischen ihnen beiden. »Vielleicht ist es kein Baum, sondern ein Mann.«
    »Townsend?«
    »Ja.«
    Vivian seufzte leise und senkte kurz den Blick. Dann sah sie wieder auf und fragte: »Es geht Ihnen besser, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte Benjamin, und diesmal lächelte er hinter seiner Maske. »Viel besser.«
    Er fragte sich, ob er sie töten sollte, nicht hier und heute, aber vor der entscheidenden Phase seines Plans, vielleicht kurz vor Townsend. Sollte er sie erwürgen, mit bloßen Händen ? Oder sie erschlagen, mit einem stumpfen Gegenstand,
wie die Forensiker sagten? Aber nein, eine Sonderbehandlung war in ihrem Fall nicht nötig, denn sie hatte ihm nichts getan, zumindest nicht direkt. Er erinnerte sich sogar an so etwas wie Mitgefühl von ihr, und auch jetzt erschien ein sonderbarer Glanz in ihren blauen Augen, als bedauerte sie ihn. Das ärgerte Benjamin, denn er wollte kein Mitleid. Es ärgerte ihn so sehr, dass er kurz erwog, sie auf der Stelle zu töten – die graue Alte in der Ecke starrte noch immer in ihr Buch – und sofort mit der Umsetzung seines Plans zu beginnen. Aber das wäre dumm gewesen, fand der lauernde Beobachter in ihm, denn es hielten sich zu viele Leute draußen auf, und sie sollten alle im Gebäude sein, wenn es so weit war. Außerdem brauchte er gar nicht die eigenen Hände zu bemühen, um Vivian vom Leben in den Tod zu befördern. Sie würde ohnehin sterben, zusammen mit den anderen.
    Niemand würde aus dem Institut entkommen.

52
    Die Flamme der Kerze, bisher unbewegt, flackerte plötzlich, obwohl die beiden Schläfer reglos unter der Decke lagen. Benjamin erwachte wie durch eine Berührung, lag völlig still da und versuchte weiterhin ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ganz langsam öffnete er die Augen einen Spaltbreit und sah das tanzende Licht der Kerze – ihre Flamme duckte sich wie im Wind.
    Dahinter, in der Dunkelheit des Tunnels, duckte sich etwas anderes wie zum Sprung, eine Gestalt, schwärzer als die Finsternis,
die sie umgab. Als sich die Flamme wie trotzig aufrichtete, reichte ihr Licht weiter, und etwas davon entriss dem Dunkel die Konturen der Gestalt. Durch den schmalen Schlitz unter seinen Lidern sah Benjamin die bucklige Karikatur eines Menschen: Der Kopf schien ohne Hals auf den Schultern zu sitzen, der rechte Arm war ein ganzes Stück länger als der linke, der Rumpf gebeugt, die Beine krumm. Die Gestalt war nackt und geschlechtslos: Da hing oder baumelte nichts zwischen den muskulösen Beinen, und eine Körperöffnung fehlte. Der Bauch war glatt, ohne Nabel. Das Gesicht …
    Benjamin versuchte es zu erkennen, aber ein Teil der Dunkelheit lag darüber wie ein Schleier und verwehrte ihm den Blick auf die Züge der Gestalt. Sie trat einen Schritt näher, mit einem Knarren wie von Leder, und hob die Arme. Die Hände waren groß, wahre Pranken, und die Finger endeten in langen Krallen. Zwei Augen blitzten hinter dem dunklen Schleier, ein Glitzern reiner Bosheit, das allerdings auch seltsam vertraut wirkte.
    Eine Kreatur?, dachte Benjamin und wagte noch immer nicht, sich zu rühren. Hier unten im Labyrinth, ohne den Nebel?
    Ein Knurren

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