Die Stadt - Roman
kam von dem Geschöpf, und eine Erinnerung wurde in Benjamin wach: Als Kind hatte er sich beim Blättern in Dinosauerierbüchern vorgestellt, dass ein Tyrannosaurus auf diese Weise grollte, wenn er auf ein vor Entsetzen gelähmtes Opfer hinabstarrte.
Vorsichtig stieß er Louise an. Aber sie regte sich nicht. Er hörte auch kein Atmen mehr von ihr. Er drehte den Kopf, gerade weit genug, damit er Louise ansehen konnte, starrte in ihr bleiches Gesicht und begriff, dass sie tot war. Aber wie
konnte sie sterben, einfach so, in einer Welt, in der man immer wieder zum Leben erwachte?
Als er wieder zum Tunnel sah, stand das dunkle Geschöpf direkt vor ihm, nicht mehr als zwei Meter entfernt, ein schwarzer Berg aus Muskeln und Sehnen. Das Gesicht zwischen den Schultern, wie mit ihnen verwachsen, blieb dunkel und ohne Einzelheiten, obwohl das Licht der Kerze Details des Körpers zeigte – Benjamin konnte einzelne Muskelstränge unter der schwarzen Haut voneinander unterscheiden.
Wieder knurrte das Wesen und schien zu versuchen, ihm etwas zu sagen. Als er nicht reagierte, hob es den langen rechten Arm und schlug mit den Krallen zu.
Benjamin beobachtete, wie sie ihm in die Brust drangen und Blut aus den Wunden strömte, als die Krallen Messern gleich durch seinen Leib schnitten. Kann das sein?, dachte er. Sterbe ich jetzt, getötet von etwas, das ich kenne?
Das war ein sonderbarer Gedanke, fand er, gnädigerweise vom Schmerz des Körpers getrennt. Er fühlte nichts in Brust und Bauch, kein Stechen und kein Brennen, aber dafür fühlte er etwas im Gesicht.
Benjamin blinzelte und sah die Hand kommen, konnte ihr aber nicht mehr ausweichen. Sie klatschte ihm, alles andere als sanft, mitten ins Gesicht, und diesmal fühlte er ein Brennen.
»Au«, sagte er.
»Na endlich!« Louise atmete tief durch. »Ich versuche seit einer halben Ewigkeit, dich zu wecken …«
»Ich habe geträumt.«
»Dies ist kein Traum. Ich höre was.«
Ihr Schweigen forderte ihn auf, in die Stille zu horchen.
Benjamin lag noch immer unter der Decke, blickte an sich herab und nahm erleichtert zur Kenntnis, unverletzt zu sein. Es war tatsächlich ein Traum gewesen.
Er hob den Kopf.
Die Kerze war etwas weiter heruntergebrannt als in seinem Traum, und im Tunnel gab es nur Dunkelheit, sonst nichts.
»Hörst du es?«, hauchte Louise.
»Nein, ich …«
In der Finsternis knarrte es, wie von Leder.
Das Geräusch kam nicht aus dem Tunnel, sondern aus der vergitterten Öffnung dicht unter der Decke. Der kleine Schacht dahinter bot nicht genug Platz für einen normal gewachsenen Menschen, geschweige denn für das Geschöpf, das Benjamin in seinem Traum gesehen hatte. Aber die Geräusche deuteten darauf hin, dass sich etwas näherte, und Benjamin war nicht scharf darauf zu erfahren, worum es sich handelte.
Er stand auf und griff nach seinem Rucksack. »Pack ein, was wir gebrauchen können«, sagte er zu Louise. »Dann machen wir uns auf den Weg.«
Wie sich herausstellte, enthielt die Kiste nicht nur einige weitere Konserven, sondern auch eine Öllampe nebst einer Flasche Öl. Benjamin zündete sie an, löschte die Kerze und leuchtete zum Gitter hoch. Für einen Augenblick gewann er den Eindruck, dass sich dort etwas bewegte, aber was auch immer es sein mochte, es wich sofort zurück.
»Meine Güte, jetzt ist mir klar, warum der verdammte Rucksack so schwer war«, sagte Louise. Sie saß neben den
Plastikbehältern, vor sich den geöffneten Rucksack. »Steigeisen. Er enthält Seile, Steigeisen und anderen Bergsteigerkram, Ben! Warum hast du diesen verdammten Rucksack genommen und nicht einen der anderen?«
»Was?« Benjamin beobachtete noch immer das Gitter.
»Es lagen vier Rucksäcke am Ufer, wenn ich richtig gezählt habe. Steigeisen! Willst du einen Berg erklimmen? Hast du hier irgendwo einen Berg gesehen, Ben?« Louise schüttelte den Kopf, zog die Steigeisen und den Rest der Bergsteigerausrüstung aus dem Rucksack und stopfte stattdessen Konserven hinein. »Möchtest du noch einen Schluck Medizin?«
»Nein.« Benjamin leuchtete in den Tunnel. Hatte sich dort etwas bewegt?
»Umso besser.« Louise trank den übrig gebliebenen Rest und warf die leere Flasche achtlos beiseite. Dann stand sie auf und schwang sich den Rucksack auf den Rücken. »Ich bin so weit.« Sie deutete auf Benjamins schmutzige Sachen. »Möchtest du nicht die Kleidung wechseln, Ben?«
Er griff in einen der Plastikbehälter, nahm ein zerknittertes Hemd und eine dunkle Hose,
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