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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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in die Öffnung, so dass kaum mehr Licht die angebliche Routenmarkierung erreichte, und Louise hatte es ohnehin sehr eilig damit, den kleinen Tunnel zu betreten. Sie schob Benjamin weiter hinein.
    »Schneller!«, drängte sie, und da war sie wieder, ihre Angst vor der Dunkelheit und den Monstern darin. In diesem Fall war zumindest ein Ungeheuer kein Produkt ihrer Phantasie.
    Sie eilten durch den kleinen Tunnel, und Benjamin fragte sich voller Unbehagen, wohin er führte.

53
    Einen Tag später – sie schätzten zumindest, dass sie einen Tag unterwegs gewesen waren – kamen Louise Zweifel.
    »Bist du sicher, dass dieser Tunnel hier zur Route siebzehn gehört?«, fragte sie, als sie an einer Stelle rasteten, wo ein breiter, schluchtartiger Riss im Felsgestein den Tunnel unterbrach. Vor ihnen schien ein gewaltiges Messer durch den Granit geschnitten und sich dann zurückgezogen zu haben. Übrig geblieben war ein Abgrund zwischen zwei Felswänden,
etwa ein Dutzend Meter breit und unergründlich tief. Das Rauschen von Wasser kam unten aus der Finsternis, für das Licht von Öl- und Taschenlampe unerreichbar. Auf der anderen Seite setzte sich der Tunnel fort, wie von einem überdimensionalen Wurm in den Fels gebohrt. Eine Brücke führte hinüber, wirkte nicht nur stabil, sondern auch recht neu. Sie bestand aus mit Stricken verknüpften Plastikteilen und einigen wenigen Holzplanken. Stammte sie vielleicht von Petrow und seinen Leuten? Konnte es sein, dass Benjamin in der Höhle rein zufällig den richtigen Weg gewählt hatte?
    Er bezweifelte es. Dinge, die zu schön waren, um wahr zu sein, waren meistens auch nicht wahr.
    »Wir haben keine Karte«, sagte er vorsichtig. »Aber du hast die 17 neben dem Tunnelzugang gesehen. Irgendwohin führt dieser Weg«, fügte er weise hinzu.
    »Solche Bemerkungen liebe ich«, kommentierte Louise. »Sie triefen regelrecht vor Klugheit. Wenn ich so etwas höre, frage ich mich immer: Warum, Louise, bist du nicht selbst darauf gekommen?«
    Sie hatten einige Konservendosen geöffnet und tranken Wasser. Um Öl zu sparen, hatte Benjamin den Docht der Lampe heruntergedreht. Ihr matter Schein reichte gerade bis zur Brücke, und nachdenklich betrachtete er ihre Bestandteile, während er von einem Würstchen abbiss und kaute.
    »Das Holz«, sagte er.
    »Ja? Was ist damit?«
    »Wieso gibt es hier Holz?« Benjamin legte beim Kauen eine kurze Pause ein, als forderte dieser Gedanke seine ganze Aufmerksamkeit. »Ich meine, in der Stadt gibt es keine Bäume.«

    »Bis auf Laurentius’ Prachtstück und die in den drei grünen Inseln.«
    »Das sind nur ein paar, und ich kann mich nicht daran erinnern, irgendwo Holzfäller gesehen zu haben. Du?«
    Louise schüttelte den Kopf und klaubte Erbsen und Möhren aus ihrer Dose.
    »Woher kommt das Holz dort in der Brücke? Und die Kiste bei den Kunststoffbehältern. Sie war ebenfalls aus Holz. Und Teile der Draisine, mit der wir ganz zu Anfang unterwegs gewesen sind. Kann es sein, dass es früher einmal Bäume in der Stadt gegeben hat?«
    »Nicht während meiner Zeit«, sagte Louise mit vollem Mund.
    »Wir wissen, dass es draußen im Nebel Bäume gibt.« Benjamin kaute wieder, aber ganz langsam, als leisteten die Kiefer Hilfe bei der Gedankenarbeit. »Sümpfe und Wälder und was weiß ich, zwischen den Städten. Aber wie kam das Holz hierher? Wer baute daraus die Draisine und die Kiste?« Er lächelte plötzlich. »Es ist der Beweis, wenn überhaupt noch einer nötig war.«
    Louise starrte ihn einige Sekunden groß an und verzog dann das Gesicht. »Das Holz in der Brücke dort ist der Beweis dafür, dass dieser Weg aus der Stadt führt? Willst du darauf hinaus?«
    Ein plötzlicher Windzug erreichte die Flamme in der Lampe durch die geöffnete Klappe und schüttelte sie. Schatten tanzten wild über die Wände, und dann ging die Flamme aus.
    Von einem Augenblick zum anderen war es stockfinster.
    »Ben?«

    »Ja?« Er tastete umher, fand seinen Rucksack und suchte darin nach einem Feuerzeug.
    »Du weißt doch, wie sehr ich das hasse.«
    »Ich hab die Flamme nicht ausgepustet«, sagte Benjamin und erkannte im gleichen Moment, dass er Louise mit solchen Bemerkungen kaum beruhigen konnte.
    »Woher kam der Wind, Ben?« Louises Stimme vibrierte. »Was hat sich in unserer Nähe bewegt?«
    »Hier ist das Feuerzeug …«
    »Warte, Ben.«
    Zwei oder drei Sekunden lang herrschte Stille, bis auf das dumpfe Rauschen des Wassers in den Tiefen der Schlucht.
    »Siehst du

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