Die Stadt - Roman
das?«
»Es ist dunkel, Louise«, sagte Benjamin. »Und ich dachte, du verabscheust die Dunkelheit.«
»Es ist nicht ganz dunkel, Ben. Man sieht es aus dem Augenwinkel. Im Tunnel auf der anderen Seite. Versuch es mal.«
Benjamin versuchte es, und tatsächlich: Als er nicht direkt den Blick darauf richtete, sah er einen Hauch von Licht im Tunnel auf der anderen Seite der Brücke.
Die plötzliche Flamme des Feuerzeugs vertrieb den fahlen Schein. Benjamin entzündete die Öllampe, drehte den Docht etwas höher und schloss die Klappe. Dann packte er Decke und Konserven in den Rucksack. Louise stand bereits, als er sich aufrichtete.
Die Brücke schwankte und knarrte unter ihnen, obwohl sie darauf achteten, keine abrupten Bewegungen zu machen. Für einige lange Sekunden schien alles in der Schwebe zu sein, über einem Hunderte von Metern tiefen Abgrund, in dem
irgendwo das Wasser eines unterirdischen Flusses strömte: Benjamin und Louise auf der zitternden Brücke, die zusammengebundenen Plastik- und Holzteile unter ihren Füßen und das Licht, auf allen Seiten, auch oben und unten, von Dunkelheit umgeben. Dann erreichten sie die andere Seite der Schlucht, ohne dass die Brücke unter ihnen nachgegeben hätte, und folgten dem Verlauf des Tunnels, froh darüber, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Nach etwa hundert Metern stießen sie auf eine nach oben führende Treppe, und der fahle Schein war inzwischen hell genug, dass sie die Öllampe löschen konnten. Benjamin zögerte kurz und wechselte einen Blick mit Louise, die wortlos die Brauen wölbte, trat dann auf die erste Stufe und ging langsam die schmale Treppe hoch. Louise blieb dicht hinter ihm und spähte gelegentlich an ihm vorbei nach oben.
»Ich höre was«, flüsterte sie, als sie etwa die Hälfte der Treppe zurückgelegt hatten. Oben zeigte sich ein Torbogen, umrahmt von Schwärze; gelbweißes Licht fiel hindurch auf die Stufen.
Benjamin blieb stehen und lauschte. Etwas klimperte, wie ein Windspiel in der Ferne, so leise, dass es sich fast im Rauschen des Blutes in den Ohren verlor.
»Was ist das?«, fragte Louise leise und sah nach oben.
»Ich schätze, das finden wir gleich heraus.« Benjamin stieg weiter hinauf, eine steinerne Stufe nach der anderen, und schließlich erreichte er den Torbogen. Dahinter erstreckte sich ein ovaler Saal; der Boden war mit goldenen Fliesen ausgelegt, von denen der gelbe Anteil des Lichts stammte. Der Rest kam wie im Arsenal aus der leeren Luft – nirgends gab es Lampen oder Leuchtkörper.
Der Saal war nicht leer. Menschen standen darin, Männer und Frauen, Dutzende, vielleicht hundert. Inmitten der Erwachsenen bemerkte Benjamin ein Kind, ein Mädchen von sieben oder acht Jahren, mit langen blonden Zöpfen.
Niemand von ihnen rührte sich. Kein Wunder: Die Menschen im Saal, jeder einzelne von ihnen, bestanden aus buntem Glas.
Das Klirren, das sie zuvor gehört hatten, wie von einem Windspiel in der Ferne – es stammte von dem Glas dieser Menschen.
»Das ist Petrow«, sagte Louise und deutete auf einen Mann in mittleren Jahren, mit einem grauschwarzen Spitzbart, der wie aus zahlreichen kleinen Kristallen zusammengesetzt glitzerte. Er stand nur wenige Meter hinter dem Torbogen, die eine Hand erhoben, als wollte er etwas abwehren, die andere halb nach hinten gestreckt. Seine Kleidung – dunkle Hose, kariertes Hemd und eine gefütterte Denim-Jacke – bestand aus einzelnen Glasstücken, mit dünnen schwarzen Linien dazwischen. Gesicht und Hände schienen aus fugenlosem Glas zu bestehen, aber als Benjamin näher herantrat und genauer hinsah, erkannte er wie bei der Kleidung einzelne Teile, kleiner als bei Hose, Hemd und Jacke, aber größer als die winzigen Kristalle des Barts.
Während er noch vor dem Mann stand, den Louise als Petrow identifiziert hatte, kam ein leises Klirren von der Gestalt, und Benjamin gewann den Eindruck, dass sich die Brust bewegt und der Glanz in den Augen verändert hatte.
»Sie leben«, sagte Benjamin. »Sie sind aus Glas, aber sie leben.«
Er streckte die Hand aus.
»Fass ihn nicht an!«, zischte Louise.
Es war schon zu spät. Benjamins Finger berührten Petrows Wange, die sich kalt und glatt anfühlte, nicht wie Glas, sondern wie Eis. Das Glitzern in den Augen veränderte sich erneut, und Benjamin glaubte, Furcht zu erkennen. Dann hörte er ein dumpfes Knirschen und trat zurück.
Die Linien zwischen den Kristallen und Glaselementen … Sie dehnten sich aus, wie winzige
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