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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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all diese Menschen hierhergebracht worden? Warum die Verwandlung in Glas? Und warum ausgerechnet sie?«
    »Weißt du das nicht?« Es klang fast herausfordernd. »Das Ding, das Petrow, Matthias und die anderen hierhergebracht hat, trägt dein Gesicht, Ben !«
    Benjamin hob den Blick vom Mädchen und sah Frederika.
    Ganz deutlich erinnerte er sich daran, wie sie im Bett des Hospitals lag, nach ihrem Tod: jung, bleich und schön, das goldene Haar wie ein Schleier auf dem Kissen ausgebreitet. Er erinnerte sich auch an ihren ersten Atemzug bei der Rückkehr vom Tod, an die Veränderung ihres Gesichts – etwas schien unter die erschlaffte Haut gekrochen zu sein und ihr wieder Leben gegeben zu haben. Und jetzt stand sie hier, inmitten der anderen Verschwunden, der Entführten.
    »Ben?«
    Er wandte sich ab; sein Hals fühlte sich wie zugeschnürt an, in der Kehle saß ein Klumpen groß wie ein Backstein. Da war er wieder, der Aufmerksamkeit fordernde Gedanke, ein Gedanke, der Erklärung versprach. Aber Benjamin wollte diesen Gedanken nicht denken, denn er fürchtete die Erklärung.
    Er ging an den Gläsernen vorbei, weg von Louise, als könnte er auf diese Weise der Frage ebenso entkommen wie der Antwort, und näherte sich einem dunklen Rechteck auf der linken Seite des Saals. Es ragte am Rand der Menschengruppe auf, umspielt vom goldenen Licht der Fliesen: eine Tür, eingelassen in einen schwarzen Rahmen. Benjamin ging
langsam um sie herum und stellte fest, dass sie von beiden Seiten genau gleich aussah, als wäre sie ihr eigenes Spiegelbild.
    »Ben …« Louise näherte sich mit langen Schritten und wich dabei den zu Glas und Kristall erstarrten Menschen aus. »Das Ding mit deinem Gesicht und den Händen wie Klauen … Hat jenes Wesen die von Hannibal errichteten Mauern durchbrochen? Warum sieht es aus wie du, Ben? «
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Benjamin, aber das stimmte nicht. Die Wahrheit lag in ihm auf der Lauer, wie der Beobachter im Benjamin Harthman seiner Träume, und wartete nur darauf, dass er den inneren Blick darauf richtete. »Vielleicht hat es mich irgendwo in den Tunneln gesehen und daraufhin mein Gesicht nachgebildet.«
    »Weil du so hübsch bist?«, fragte Louise spöttisch. »Weil dem Geschöpf dein Gesicht gut gefällt? Willst du mich auf den Arm nehmen, Ben? Dies muss einen Grund haben!«
    Benjamin ging erneut um die Tür herum, streckte die Hand nach dem Knauf aus und zögerte, ohne ihn zu berühren.
    »Du weißt es, Ben.« Im goldenen Licht, das von den Fliesen aufzusteigen schien, sah Louise ihm in die Augen und suchte dort nach der Wahrheit, gegen die er sich wehrte. »Heraus damit!«
    Das goldene Licht flackerte wie der Schein einer Kerze, und die dunkle Gestalt kehrte aus dem Tunnel auf der anderen Seite zurück, mit einem Knurren, das aus den Tiefen eines Dinosaurierrachens zu kommen schien. Ein ledriges Knarzen begleitete jede Bewegung, als das Geschöpf zielstrebig näher kam, in der Gangart eines großen Affen. Es hob die
Pranken, und lange Krallen glänzten wie Messerklingen. Achtlos stieß es im Weg stehende Gläserne beiseite.
    Männer und Frauen fielen auseinander, verwandelten sich in Scherben und glitzernden Kristallstaub. Das dunkle Wesen mit Benjamins Gesicht – und es war sein Gesicht, daran bestand nicht der geringste Zweifel – stapfte heran und streckte ihnen die Arme entgegen.
    Benjamin riss die Tür auf. Eine silberne Wand erstreckte sich darin, wie aus Quecksilber, und als Benjamin sie berührte, gab sie nach. Er spürte ein Prickeln, das von den Fingerspitzen ausging und sich in seinem ganzen Körper fortpflanzte, und kleine Wellen liefen durch die silbrige Substanz, ausgehend von der Stelle, die er berührt hatte.
    Er sah zurück. Das dunkle, geschlechtslose Wesen mit der ledrigen Haut hatte sie fast erreicht und war so nahe, dass Benjamin seinen scharfen Geruch wahrnahm, wie von Ammoniak.
    Er packte Louises Hand und zog sie mit sich, als er durch die silberne Membran in der Tür trat.

Das Ticken der Zeit

54
    Sie kamen aus einem Labyrinth und gerieten in ein anderes. Das erste bestand aus Gängen, Höhlen und Tunneln, in denen einst U-Bahnen unterwegs gewesen waren – oder auch nicht, wenn Louise Recht hatte und alles nur der Scherz eines sich köstlich amüsierenden göttlichen Beobachters war –, das andere aus einer endlosen Folge von Räumen mit angehaltener Zeit.
    So sah es aus, und so fühlte es sich an.
    »Jetzt wissen wir, was aus den Uhren der Stadt

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