Die Stadt - Roman
Spalten an einer Bruchstelle im Eis. Der Vorgang beschleunigte sich, als wäre eine Lawine losgetreten worden. Scherben und Kristalle, wie Diamanten schimmernd, fielen zu Boden. Die Beine lösten sich auf, und der Rumpf folgte; ein Teil von ihm verwandelte sich in glitzernden Staub. Dann fiel der Kopf, und als er den Boden erreichte, war er schon zu einer losen Ansammlung aus Kristallsplittern und Scherben geworden.
Benjamin starrte auf die Reste des Mannes, der eine Expedition durchs Labyrinth geführt und die Route siebzehn entdeckt hatte.
»Das wollte ich nicht. Ich …« Benjamin sprach nicht weiter, als erneut ein Klimpern und Klirren durch den großen Saal ging. Die übrigen Männer und Frauen, und auch das Mädchen mit den Zöpfen, standen so unbewegt wie zuvor, aber auf der anderen Seite des ovalen Saals kam eine dunkle Gestalt aus einer Tunnelöffnung, die unterschiedlich langen Arme um eine Frau aus Glas geschlungen. Die Gestalt wankte zu den anderen gläsernen Menschen, fügte ihnen die Frau hinzu, kehrte dann zum Tunnel zurück und verschwand wieder.
Benjamin war wie erstarrt gewesen und hatte den Atem
angehalten. Langsam ließ er ihn entweichen und holte Luft.
Louise starrte zum Tunnel. »Ben?«
»Ja?«
»Hast du das Gesicht des Wesens gesehen?«
»Nein«, log er, sein Innerstes in Aufruhr.
»Bei der letzten Begegnung mit dem Geschöpf habe ich das Gesicht nicht erkennen können, aber diesmal … Warum hat es dein Gesicht, Ben?«
Er hatte es ebenfalls gesehen. Für nicht länger als eine Sekunde hatte sich der dunkle Schleier gehoben, und dahinter war sein Gesicht zum Vorschein gekommen, wie in einem Zerrspiegel, aber doch unverkennbar das seine.
»Ich weiß es nicht«, sagte Benjamin und stöhnte leise. Welche Bedeutung verbarg sich hier? Er ahnte etwas, schreckte aber vor dem Gedanken zurück.
»Ich meine, das kann doch kein Zufall sein.« Louise deutete auf die Frau, die das Wesen gebracht hatte. »Das ist Anja. Ich kenne sie von meiner Zeit bei der Gemeinschaft. Petrow, Anja …« Sie ging langsam zwischen den gläsernen Männern und Frauen umher. »Hier ist Ilmar«, sagte sie und deutete auf einen nordischen Burschen, der Katzmann ähnlich sah. »Er verschwand vor neun Jahren. Hannibal und Abigale hielten ihn für jemanden, bei dem die ›göttliche Macht‹ die Entscheidung über Gut und Böse getroffen hatte. Sie wussten nur nicht zu sagen, wohin er verschwunden war, ins Paradies oder in die Hölle.«
Es fiel Benjamin schwer, den besonderen Klang von Louises Stimme bei diesen Worten zu deuten. War es Spott, der da in ihrer Stimme mitschwang, vielleicht auch Verachtung,
oder einfach nur Verwunderung, vermischt mit Argwohn ihm gegenüber? Seine Gedanken waren wirr und wanden sich wie zu einem Knäuel verknotete Schlangen.
»Und dort steht Matthias mit der goldenen Stimme.« Louise näherte sich einem langgliedrigen, schmächtigen Mann in mittleren Jahren, der auf seinem ansonsten kahlen Kopf einen grauweißen Haarkranz hatte, der zu einer Krone aus Kristallen geworden war. »Du hättest hören sollen, wie er zur Musik des Geigers sang, Ben.«
Jetzt lag kein Argwohn mehr in ihrer Stimme, nur noch Erstaunen. Während Benjamin noch versuchte, das Chaos in seinem Innern zu ordnen, beobachtete er, dass sie sicheren Abstand zu den gläsernen Gestalten wahrte.
»Er verschwand eines Nachts bei einer Patrouille«, fuhr Louise fort und sah in die glänzenden, kristallenen Augen des Mannes. »Es geschah kurz vor meinem Rauswurf aus der Gemeinschaft. Mikado erzählte später, sie hätten beim nördlichen Wasserturm gehalten, um sich ein bisschen die Beine zu vertreten, und plötzlich sei ein Schatten aufgetaucht, der aber kein normaler Schatten war. Hannibal konnte mit diesen Schilderungen nicht viel anfangen und ging von einem Kontakt mit einem gewöhnlichen Schatten aus. Jetzt wissen wir, was Matthias hierherbrachte, ihn und all die anderen. Wenn Hannibal dies sähe …« Sie schüttelte den Kopf. »Dann müsste er eingestehen, dass sein ganzer Limbus-Schwachsinn genau das ist: Schwachsinn.«
»Aber warum?«, murmelte Benjamin und blieb vor dem Mädchen mit den Zöpfen stehen. Es lebte, wie Petrow: Wenn er ganz genau hinsah, bemerkte er wie in Zeitlupe ablaufende Bewegungen des Brustkorbs. Das Mädchen atmete. Vielleicht
sah es ihn sogar. Welche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, langsam und träge wie Schnecken? Was fühlte es? Entsetzen angesichts seiner gläsernen Existenz? »Warum sind
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