Die Stadt - Roman
»Vielleicht entstand sie, wenige Sekunden bevor wir die Höhle erreichten. Die Strickleitern dort, deren Stricke zerfallen, wenn man sie berührt … Vielleicht sind sie erst wenige Minuten alt.«
Benjamin nickte. »Ich weiß, was du meinst. Du willst damit sagen … Der Schein kann trügen.«
»Wir sind tot, Ben«, sagte Louise ernst, und ihre Stimme klang dabei fast wie die der Traurigen in seiner Erinnerung. »Es ist leicht, das zu vergessen, weil wir uns lebendig fühlen, weil wir sprechen und uns bewegen, denken und fühlen. Aber wir sind tot . Und dies ist weder das Paradies noch die Hölle. Glaube ich jedenfalls.« Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. »Vielleicht erlaubt sich jemand einen Scherz mit uns. Vielleicht hat etwas im Augenblick des Todes unsere Seelen geschnappt und hierhergebracht, um mit uns
zu … spielen. Um zu sehen, wie wir reagieren. Vielleicht sitzt in diesem Augenblick irgendwo ein Gott oder was weiß ich über uns gebeugt und lacht sich schlapp, weil wir auf seinen dämlichen Streich hereinfallen und uns fragen, welchem Zweck dieser Ort einst gedient haben könnte.«
Es erklang viel Zorn in diesen Worten, fand Benjamin. Zorn und auch eine gehörige Portion Hilflosigkeit.
»An etwas müssen wir uns halten«, sagte er und klopfte an die Wand. Sie fühlte sich fest an, und sehr real. »Wir können nicht alles infrage stellen. Diese Tunnel und Schächte, sie existieren und sind der Rahmen für unser Handeln. Diese Felswände lassen sich nicht einfach wegdenken. Was die Stadt betrifft, Louise … Wir können nicht zurück, selbst wenn es von hier aus einen Weg gäbe. Hannibal oder Dago, früher oder später würde uns einer von ihnen erwischen.«
»Eins steht fest«, brummte Louise. »Wenn ich jemals demjenigen begegnen sollte, der für dies alles verantwortlich ist … Er kriegt von mir einen verdammten Tritt in seinen verdammten Hintern. Ich hab mein Leben für schlimm genug gehalten, aber dies alles …«
Benjamin hob die Lampe, um in ihrem Schein an der Wand nach Markierungen zu suchen, und dabei bemerkte er die Schrammen auf seinem Handrücken. »Wie lange haben wir geschlafen, Louise, was meinst du?«
»Keine Ahnung. Ein paar Stunden vermutlich.«
»Sieh dir deine Hände an. Was ist mit ihnen?«
»Was soll mit ihnen sein? Sie sind verschrammt«, sagte Louise, und dann: »Oh.«
»Ja. Die Kratzer sind nicht verschwunden, obwohl wir einige Stunden geschlafen haben.«
»Wir heilen hier langsamer als in der Stadt.«
Etwas grollte in der Dunkelheit hinter ihnen.
»Was war das?«, entfuhr es Louise. »Verdammt, verdammt, nach einer Miezekatze klang das nicht.«
Benjamin wusste, wonach es klang, aber er sagte nichts und setzte die Suche nach Hinweisen fort. Mit wachsender Ungeduld versuchte er, Rillen im Fels neben den Tunneleingängen als Teile von Nummerierungen zu deuten, musste sich dabei allerdings eingestehen, dass er sich von reinem Wunschdenken leiten ließ. Als seine Suche bei den Tunneln ohne Erfolg blieb, nahm er sich die kleinen Öffnungen am Ende der Rampen und Stege vor, doch auch dort hatte sich niemand die Mühe gemacht, Zahlen an die Felswand zu malen oder zu kratzen. Wieder leuchtete er mit der Lampe, sah sich in der großen Höhle um und fragte sich, ob sie überhaupt zur Route siebzehn gehörte.
Das Licht strich über die Felswände und die verrostete Lore in der Mitte, und als es den Tunnel erreichte, der sie hierhergeführt hatte, bewegte sich dort etwas, ein Schatten in der Dunkelheit, groß und mit viel mehr Substanz als ein gewöhnlicher Schemen.
Louise wich zurück und prallte dabei gegen die Reste der Lore.
Die Situation verlangte eine sofortige Entscheidung von Benjamin. Er traf sie, aber leicht fiel sie ihm nicht. Die Lampe kratzte über den Stein neben dem Loch in der Wand.
»Hier«, sagte er und deutete auf die Öffnung, neben der er stand. »Hier setzt sich die Route siebzehn fort. Ich habe die Markierung endlich gefunden.«
Louise eilte über den Steg zu ihm, verfolgt vom Knurren
des dunklen Wesens im Tunnel. Sie hielt die Riemen an ihren Schultern fest, damit der Rucksack auf ihrem Rücken nicht zu sehr wackelte.
»Na endlich!«, stieß sie hervor und warf einen kurzen Blick auf die von Benjamins Lampe stammenden Kratzer, die eine grobe 17 ergaben. Wenn sie genauer hingesehen hätte, wäre ihr kaum entgangen, dass es sich um neue Kratzer handelte, nicht annähernd so alt wie die anderen. Aber Benjamin hielt die Lampe bereits
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