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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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zu dem Toten und sah auf ihn hinab. »Ich hätte dir gern einen letzten Schluck gegönnt«, sagte er. »Aber so ist es besser für dich. Schnell und schmerzlos. Ohne zu begreifen, was dir geschah. Bei den anderen wird es länger dauern. Und sie werden wissen, was mit ihnen geschieht.«
    Er wollte sich abwenden, doch etwas ließ ihn zögern und
veranlasste ihn, in die Augen des Toten zu schauen. Er fragte sich, ob es stimmte, ob man in den Augen eines gerade Gestorbenen das Jenseits sehen konnte, und erstaunt merkte er, wie etwas in ihm bei diesem Gedanken erschauderte.
    Benjamin ging weiter.
    Noch immer heulte der Alarm durchs Gebäude, und ein Tastendruck schaltete die Sirenen und Klingeln aus. Die sicherheitsverglasten Fenster waren ebenso verriegelt wie die Türen, und außerdem hatten sich draußen Stahlblenden vor sie geschoben. Selbst wenn es jemandem gelang, ein Fenster einzuschlagen: Für die Stahlblenden hätte er schwere Werkzeuge benötigt, die es nur im Keller gab, vor einem unscheinbaren Karton mit Freund Jim Beam in der Ecke, und der Zugang zum Keller war blockiert. Alle Menschen im Gebäude saßen in der Falle. Auch er selbst. Das war ein Gedanke, der ihn ein bisschen traurig stimmte, ein ganz kleines bisschen.
    Die Tür zum großen Heizungsraum öffnete sich für Benjamin, als er sich mit dem Laptop übers Netzwerk als autorisierte Person ausgab. Es war das erste Mal, dass er diesen Raum betrat, aber die technischen Einzelheiten der Anlage dort kannte er aus im Internet frei verfügbaren Datenblättern. Er wusste, wie sie funktionierte, und er wusste auch, wo und wie er sie manipulieren musste, um das gewünschte Resultat zu erzielen.
    Auf der linken Seite, jenseits des vergitterten Fensters dicht unter der Decke, flackerte ein Blitz in der stürmischen Nacht, wie ein Zeichen, wie ein Signal.
    Benjamin rief die Grafiken der Heizkessel auf den Schirm und begann damit, die Leistung hochzufahren. Er öffnete
Ventile, die eigentlich geschlossen bleiben sollten, was dazu führte, dass der Druck in manchen Leitungen stieg, und Gas aus den Reservetanks herangeführt wurde.
    Die Vorbereitungen dauerten nicht länger als fünf Minuten. Benjamin folgte der Routine, die er bei mehreren theoretischen Probeläufen entwickelt hatte, und ein kleines Skript half ihm dabei, die Sicherheitsroutinen des Zentralrechners zu überlisten. Als alles getan war, verließ er den Heizungsraum und schob einen Stuhl vor die Tür, damit sie sich nicht schließen konnte. Seine Schritte blieben ruhig, als er durch den Flur ging, zum letzten Raum, in dem das Notstromaggregat auf seinen Einsatz wartete. Nachdem er dort die Tür hinter sich geschlossen hatte – das Gas sollte diesen Raum nicht zu schnell erreichen –, öffnete er die Treibstoffleitungen des mit Diesel betriebenen Aggregats und ließ die ölige, stinkende Flüssigkeit über den Boden laufen. Er beobachtete, wie sie sich auf den Fliesen ausbreitete und zur Tür kroch, als wüsste sie, was sich dahinter anbahnte, und als wollte sie bereit sein.
    Neben dem Aggregat standen einige Reservekanister, zwei von ihnen gefüllt. Als Benjamin sie nahm, kam in der dunklen Ecke ein alter, fleckiger Karton zum Vorschein. Neugierig geworden öffnete er ihn und fand eine halb volle Flasche französischen Cognac sowie mehrere Pornohefte, ebenso fleckig wie der Karton – Ernesto schien an diesem Ort besondere Anlässe gefeiert zu haben.
    Benjamin öffnete die Flasche und roch daran. Schon vor Jahren hatte er dem Alkohol abgeschworen, aber dies war eine ganz besondere Gelegenheit, nicht wahr? Er setzte die Flasche an die Lippen, trank einen Schluck und spürte, wie
ihm der Cognac in der Kehle brannte. Es war billiger Fusel – guten, teuren Cognac hatte sich Ernesto nicht leisten können – , aber Benjamin genoss das Brennen im Hals, denn es kündigte ein anderes, reinigendes Feuer an.
    Er trank, während es nach Diesel roch, und dann auch, immer stärker, nach Gas. Draußen grollte der Donner des Gewitters. Blitze flackerten, und Böen warfen Regen gegen die Fenster. Zwischen zwei Schlucken Cognac fragte sich Benjamin, wie es den anderen Menschen im Gebäude erging. Er stellte sich vor, wie sie an Türen zerrten und versuchten Fenster einzuschlagen. Jene unter ihnen, die an Klaustrophobie litten, gerieten vielleicht schon jetzt in Verzweiflung, obwohl sie erst in einigen Minuten guten Grund dafür bekommen würden. Er dachte auch an die Traurige, an Françoise, deren Hand er gehalten

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