Die Stadt - Roman
sich zu einer Symphonie aus Licht und Ton, mit einer Botschaft, die sich direkt an ihn richtete. Es ist so weit , lautete sie. Führe deinen Plan aus. Säubere diesen Ort, an dem so viel Böses geschah.
Er steckte die Garrotte ein, zog den kleinen Schlüsselbund aus der Tasche des Toten, ging mit ruhigen Schritten zur Bücherwand und drückte auf die Stelle, die er sich gemerkt hatte, zwischen Melvilles Moby Dick und drei Bänden mit gesammelten Werken von James Fenimore Cooper. Es klickte, und als Benjamin zog, schwang ein Teil der Regalwand auf. Er trat ins Zimmer auf der anderen Seite und schaltete das Licht ein.
Donner grollte in der Ferne.
Der stille Beobachter in Benjamin hatte sich alle Einzelheiten des Raums eingeprägt. Ohne zu zögern näherte er sich einem bestimmten Schaukasten, schloss ihn mit einem Schlüssel des Bunds auf und entnahm die Walther P99, für die er sich bereits entschieden hatte. Er ließ den Schaukasten offen, und als er sich dem Schrank mit der Munition zuwandte, fiel sein Blick auf den Revolver, den Townsend als sein »bestes Stück« bezeichnet hatte, eine Waffe, von der es nur noch wenige Exemplare gab.
Der Munitionsschrank ließ sich ebenso einfach öffnen wie zuvor der Schaukasten, und wenig später war das Stangenmagazin mit Patronen vom Kaliber 9 mm Parabellum gefüllt.
Wieder im Salon sah er sich noch einmal um und hörte trotz des Regenprasselns die eigenen Herzschläge wie das dumpfe Pochen eines Metronoms, das die Geschwindigkeit seiner Gedanken und seines Handelns bestimmte. Er sah alles ganz deutlich vor sich, die Einzelheiten des Plans und ihre
zeitliche Abstimmung, wie Zahnräder, die perfekt ineinandergriffen und deren Bewegung etwas Größeres antrieb. Er selbst war plötzlich Teil dieses Mechanismus, der sich nicht mehr aufhalten ließ.
Er nahm Townsends Laptop, dessen Passwörter er kannte, verließ den Salon und machte sich auf den Weg in den Keller. Mehrere Sicherheitsbarrieren trennten ihn von seinem Ziel, aber sie stellten kein Problem dar, denn mithilfe des Laptops, über WLAN mit dem Netzwerk des Instituts verbunden, konnte er alle Türen öffnen. Was die beiden im Erdgeschoss patrouillierenden Wächter betraf … Dafür hatte er die Walther. Für sie und alle anderen, die versuchten ihn aufzuhalten.
Im Flur ging Benjamin etwas schneller und dachte daran, dass nur die Pferde draußen in den Stallungen überleben würden, und vielleicht Muriel, wenn sie dort bei den Tieren war.
Das Dröhnen der Uhren und das Donnern verstreichender Zeit hallten durch Benjamins Kopf. Er öffnete die Augen und sah überall Uhren, analoge und digitale, kleine und große, mit rasch wechselnden Zahlen oder Zeigern, die unterschiedlich schnell über Zifferblätter eilten, angetrieben von Sekunden, Minuten und Stunden. Die Zeit ist asynchron, dachte er, als er die Uhren beobachtete. Manche Menschen waren erst seit wenigen Jahren in der Stadt, andere seit Jahrzehnten oder noch länger, wie Laurentius, der fast zweihundert Jahre in ihr verbracht hatte, oder Hannibal mit seinen acht Jahrzehnten. Es lag an der asynchronen Zeit an diesem Ort, denn die meisten von ihnen waren in der anderen Welt zum gleichen Zeitpunkt
gestorben. Das wusste Benjamin jetzt, wie er auch um andere Dinge Bescheid wusste.
»Mach dich nicht so verdammt schwer, Ben!«, ächzte eine vertraute Stimme. »Kannst du mir nicht ein bisschen helfen?«
Louise. Er hörte sie, trotz des Dröhnens und Donnerns, oder vielleicht las er nur die Worte von ihren Lippen, und sein Gehirn gab ihnen Klang. Sie hatte ihm die Hände unter die Achseln geschoben und zog ihn zur Tür. Zur offenen Tür. Dahinter waren gelbe Wände zu sehen, und eine weitere Tür, die einmal gelb gewesen war, aber einen großen Teil ihres Anstrichs verloren hatte. Sie stand ebenfalls offen und gewährte Blick auf eine Straße mit feucht glänzendem Kopfsteinpflaster, gesäumt von schmalen, Wand an Wand stehenden Häusern.
»Es ist das gelbe Haus!«, stieß Louise hervor. »Hast du gehört ? Hörst du mich überhaupt? Dieser verdammte Lärm! Es ist das gelbe Haus. Die schwarze Tür führt ins gelbe Haus. Beziehungsweise hinaus.«
Benjamin erinnerte sich vage daran, von einem – oder dem – gelben Haus gehört zu haben, während der Fahrt mit dem Patrouillenwagen einige Stunden nach seiner Ankunft in der Stadt. Er entsann sich nicht an Einzelheiten, aber das spielte auch keine Rolle. Wichtig war nur, dass er dem Lärm der tickenden Zeit entkam.
Er
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