Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
versuchte aufzustehen oder sich mit den Armen abzustützen, doch der Körper gehörte ihm nicht, hing schlaff und schwer an Louises Händen, als sie ihn durch die Tür zog. Auf der Schwelle, beziehungsweise darüber, spürte Benjamin einen kurzen Widerstand, wie beim Durchdringen der quecksilberartigen
Membran im Saal der Gläsernen, und dann befand er sich auf der anderen Seite, umgeben von kühler Luft, die von der Straße ins gelbe Haus wehte. Aus dem Getöse der Uhren wurde ein sanftes Flüstern und Raunen, wie von Wind in hohen Baumwipfeln, fand Benjamin, und dieser Gedanke, leichtfertig gedacht, ließ ihn zurücksinken in den tückischen Treibsand der Erinnerungen.

56
    Zwei Wächter lagen tot im Flur des Erdgeschosses, der eine mit einem Loch in der Stirn, der andere mit einer Kugel im Herzen. Der Pfleger, auf den Benjamin gerade geschossen hatte, blutete nur aus dem Oberschenkel, aber es leuchtete Todesangst in seinen Augen, als er sich zur Tür schleppte. Benjamin wartete geduldig, bis sich der Verletzte auf der anderen Seite befand, drückte dann die Return-Taste des Laptops und beobachtete, wie sich die Tür schloss und mit einem Klicken verriegelte. Sie hatte weder Klinke noch Knauf, nur einen kleinen Scanner, dafür bestimmt, die Codekarten des Instituts aufzunehmen und die Signale des in ihnen integrierten Chips zu empfangen. Selbst wenn die anderen Pfleger im Gebäude über solche Karten verfügten, sie konnten jetzt nichts mehr mit ihnen anfangen, denn er hatte den Zugangscode geändert.
    Benjamin ging in die Hocke, den Laptop auf den Knien, und betätigte Tasten, die unter seinen Fingern klickten wie der Verriegelungsmechanismus der Stahltüren, die sich jetzt
überall im Institut schlossen, den Schotten eines Schiffes gleich. Er lächelte bei diesem Gedanken und stellte sich das Gebäude wie die Titanic vor, einen von Menschen geschaffenen Koloss, der den Gewalten der Natur trotzen sollte und ihnen doch zum Opfer fallen würde. Aber in diesem Fall war es nicht Eis oder Wasser, die Zerstörung und Tod brachten, obwohl er das Prasseln von Regen an den vergitterten Keller-fenstern hörte.
    Die erwartete schematische Darstellung erschien auf dem Bildschirm, begleitet von einem warnenden Hinweis, den Benjamin mit einem weiteren Druck auf die Return-Taste beendete.
    Alarmsignale heulten durchs Gebäude. Der Zentralrechner des lokalen Netzwerks schickte jetzt einen automatischen Notruf in die Telefonleitungen, und Benjamin beobachtete in den Ereignisanzeigen die Fortschritte bei der Notfallprozedur. Er hatte die Telefonleitungen nicht unterbrechen können, und selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre: Es gab noch andere Möglichkeiten, einen Notruf abzusetzen, zum Beispiel per Funk. Stattdessen hatte er der Prozedur ein kleines Programm hinzugefügt, dass der ersten Nachricht eine zweite hinzufügte, die schlicht lautete: Fehlalarm.
    Ob die Empfänger der beiden Nachrichten, vermutlich die Polizei im nächsten Ort, an die Authentizität der zweiten Nachricht glaubten oder nicht (Warum eigentlich nicht? Sie stammte vom gleichen Rechner, der festgestellt hatte, dass die Sensoren falsche Daten übermittelten), war Benjamin letztlich gleichgültig. Eventuell losgeschickte Einsatzkräfte konnten ohnehin nicht rechtzeitig zur Stelle sein. Das Wetter war viel zu schlecht; der Regen hatte, wie er aus den letzten
Fernsehnachrichten wusste, eine Brücke unterspült und mindestens einen Erdrutsch ausgelöst.
    Das Instituts-»Schiff« stampfte in schwerer See, allein in dieser Nacht.
    Es würde eine heiße Nacht werden, im wahrsten Sinne des Wortes.
    Eilige Schritte näherten sich, und eine Stimme ertönte. »Was machen Sie da?«
    Benjamin hob den Blick vom Laptop und sah den Hausmeister, einen fülligen Mann in blauer Arbeitskleidung, das Gesicht rund und rosig. Ernesto hieß er, und vielleicht hatte er wieder getrunken. Benjamin hatte ihn einmal dabei beobachtet, während eines heimlichen Streifzugs durchs Kellergeschoss. Jim Beam war sein bester Freund, versteckt hinter dem Werkzeugwagen im dritten Kellerraum, und manchmal auch Johnnie Walker, der im Hohlraum hinter der Treppe auf ihn wartete.
    Benjamin hob die Walther und schoss. Es knallte, und die Waffe zitterte kurz in seiner Hand, als sie dem Hausmeister einen schnellen Tod brachte. Der Mann brach mit einem überraschten Gesichtsausdruck zusammen, völlig lautlos, ohne ein letztes Röcheln, das das Ende seines Lebens markierte.
    Benjamin stand auf, ging

Weitere Kostenlose Bücher