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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Ankunft in der Stadt – war offenbar frisch gebügelt. Ihre gelben Schuhe erinnerten ihn an das schmale Haus, dessen Tür Louise und ihn aus dem Labyrinth in die Stadt zurückgebracht hatte.
    »Wo ist Louise?«, fragte er. »Was ist mit ihr geschehen?«
    »Nichts«, antwortete Hannibal sofort. »Sie befindet sich hier im Hotel, und ich versichere dir, dass es ihr gutgeht. Wir möchten nacheinander mit euch sprechen.«
    »Nur das wollt ihr? Mit uns ›sprechen‹? Hast du nicht gesagt, dass ihr über uns zu ›richten‹ gedenkt?«
    Hannibal und Abigale wechselten einen Blick. Benjamin musterte die mollige Frau, deren Sommersprossen etwas dunkler waren und sich dadurch deutlicher abzeichneten. Die Schrammen, die er auf der Wange der toten Abigale gesehen hatte, waren verschwunden.
    Er betrachtete seine Hände. Die Haut war glatt, ohne Kratzer, unverbrannt.
    Unverbrannt …
    Die Erinnerungen – deutlich wie Bilder an den Wänden und mühelos zu betrachten, ohne die Gefahr, sich in ihnen zu verlieren – waren in mentaler Reichweite, präsent und nah. Und zwar alle Erinnerungen, auch die anderen, mit der Wahrheit verknüpften, die er inzwischen zwar kannte, der er sich aber noch nicht ganz zu stellen wagte. Dazu hatte er noch nicht den Mut gefunden; vielleicht war die Zeit noch nicht reif.

    »Wohin ist der Supermarkt verschwunden?«, fragte Hannibal. »Wann kehrt er zurück?«
    Aus dem Augenwinkel sah Benjamin, wie Jonas’ Stift noch etwas schneller übers Papier des großen Protokollbuchs wanderte.
    »Woher soll ich das wissen?«, erwiderte er.
    »Ohne den Supermarkt wird es uns allen sehr schlecht ergehen, Benjamin«, sagte Abigale sanft. »Noch schlechter als es den Streunern bisher ergangen ist. All die Dinge, die unser Leben in der Stadt erträglich machen, stammen aus dem Supermarkt. Ohne ihn …«
    »Ohne ihn müsstet ihr zum Beispiel Kreaturen fangen und ihr Fleisch braten, wie Rebecca«, sagte Benjamin und lauschte dem Klang der eigenen Stimme. Erneut musterte er Abigale und nahm dabei zur Kenntnis, welche Mühe sie sich für ihr äußeres Erscheinungsbild gegeben hatte. Was für Jonas der Stift, waren für Abigale Frisur und Kleidung. Sie versuchte auf ihre eigene Art und Weise, sich an einer Welt festzuklammern, die um sie herum zusammenbrach. Für einen Moment stellte Benjamin sie sich an einer großen Bratpfanne vor, in einer Küche, in der es nach Kreaturenfleisch roch, mit Hannibal, der am Tisch saß und mit Messer und Gabel in der Hand auf sein Steak wartete. Der Gedanke entlockte ihm ein Lächeln.
    Hannibals Züge verhärteten sich ein wenig. »Findest du unsere Situation komisch?«
    »Hungernde Menschen sind nie komisch«, sagte Benjamin. »Ich finde es auch nicht komisch, dass manche Menschen in der Stadt alles bekamen, was sie wollten, während andere Not litten.«

    Wieder tauschten Hannibal und Abigale einen kurzen Blick aus, und einmal mehr gewann Benjamin den Eindruck, dass sie auf einer Ebene miteinander kommunizierten, zu der er keinen Zugang hatte.
    »Ist das der Grund?«, fragte Abigale schließlich. »Bist du zu uns geschickt worden, um uns zu strafen?«
    »Was?«
    »Wir sind bereit, Abbitte zu leisten«, sagte Hannibal ernst. »Wir möchten hiermit ausdrücklich betonen, dass es uns leidtut. Wenn du dafür sorgst, dass der Supermarkt zurückkehrt, sind wir bereit, auch den Streunern Zugang zu gewähren.«
    »Für wen haltet ihr mich?«, fragte Benjamin verblüfft. »Für einen göttlichen Gesandten?«
    »Es hat mit dir begonnen«, sagte Abigale vorsichtig. »Die Veränderungen in der Stadt, der Nebel, der immer näher kommt, das Verschwinden von Personen, der zunehmende Konflikt mit Dago und seinen Leuten … Du hast den Streunern das Arsenal gezeigt.«
    »Das habe ich nicht«, warf Benjamin ein. »Ich meine, ja, sie haben es durch mich entdeckt, aber nur weil …«
    Hannibal hob die Hände. »Wir nehmen an, du hattest einen guten Grund dafür. Vielleicht wolltest du uns – und damit meine ich uns alle in der Stadt – auf die Probe stellen, und als es dann zum Angriff auf den Supermarkt kam … Er hatte uns gewarnt. Aber wir haben nicht auf die Stimme gehört. Du siehst uns in Reue, Benjamin.«
    Ich sehe euch in Irrungen und Wirrungen, dachte Benjamin verwundert.
    »Wenn du der bist, für den wir dich halten, Benjamin«, sagte Abigale, »so wisse dies: Wir haben versucht, das Gute
zu mehren und das Böse zu tilgen. Wir sind immer, von Anfang an, bestrebt gewesen, die letzten

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