Die Stadt - Roman
und deren seltenes Lächeln er gesehen hatte. Was hatte sie empfunden, während ihrer letzten Momente, als mit dem Blut, rot und warm, das Leben aus ihr floss? Was hatte sie gefühlt, als der Tod herangekrochen war und ihre Seele umarmt hatte?
Erinnere dich an sie, dachte Benjamin, als er die Flasche neben den Karton mit den Pornoheften stellte und das Feuerzeug hervorholte. Du musst dich an sie erinnern, und an alles andere.
Der Gasgeruch war inzwischen sehr stark geworden, und Benjamin begriff, dass er nicht länger warten durfte, wenn er nicht riskieren wollte, das Bewusstsein zu verlieren. Er trug die beiden vollen Kanister in die Mitte des Zimmers, schraubte die Deckel ab und stieß die Kanister mit dem Fuß um. Noch mehr Diesel lief über den Boden.
Als Benjamin die Tür öffnete, wurde der Gasgeruch überwältigend.
Er stinkt, der Tod, dachte er. Ich rieche seinen stinkenden Atem.
Er hob das Feuerzeug und betrachtete es einige Sekunden lang. Welche Macht ich habe, dachte er. Ein kleiner Druck auf die Taste bedeutet den Unterschied zwischen Leben und Tod, nicht nur für mich, sondern für alle im Gebäude.
Dies war er, der gloriose Moment des Feuers.
Du musst dich erinnern, dachte Benjamin. Nimm die Erinnerungen mit in den Tod. Halt sie fest.
Er drückte die Taste des Feuerzeugs. Ein Funke sprang, aber die kleine Flamme wurde sofort von einer viel größeren verschlungen. Das Gas brannte nicht einfach, es explodierte, mit einer so gewaltigen Hitze, dass Benjamin bereits verkohlt war, als ihn die Druckwelle an die Rückwand des Raums mit dem Notstromaggregat schmetterte.
Mit dem Tod kam ein seltsamer Geruch, wie von Ammoniak, und Benjamins Erinnerungen wirbelten durcheinander, die echten wie die falschen.
Benjamin öffnete die Augen und blinzelte im Schein der Sonne, die über ihm an einem opalblauen Himmel hing, rechts und links gesäumt von Hausdächern. Die grauen Wolken seines kondensierenden Atems dämpften ihr Licht. Kälte strich ihm übers Gesicht, aber es war eine angenehme Kälte. Weitaus weniger angenehm war die Hand, die ihn am Kragen packte und auf die Beine zerrte. Sie gehörte Hannibal.
Am Ende der Gasse, in der sie sich befanden, sah er die Grünanlagen des Hotels Gloria. Die dortigen Pflanzen wirkten seltsam verkümmert und halb verwelkt.
Nur zwei oder drei Meter entfernt hielten Katzmann und
Mikado Louise an den Armen fest. Sie fluchte hingebungsvoll und versuchte nach ihnen zu treten. Weiter hinten stand ein Patrouillenwagen mit abgestelltem Motor.
Auf der rechten Seite ragte das gelbe Haus auf, klein und schmal, wie zwischen die anderen Häuser gequetscht, die Tür offen.
»Die Stadt hat euch zu uns zurückgebracht«, sagte Hannibal mit grimmiger Zufriedenheit. »Damit wir über euch richten.«
Tief im Innern der Maschine drehte sich erneut das große Zahnrad bei den Pendeln der Kohärenz.
Und im Saal mit den vielen Hebeln, die wie Stacheln und Dornen aus Wänden, Decke und selbst dem Boden ragten, stand ein Mann, lächelte und biss in einen Apfel.
Der Prozess
57
Jonas saß an seinem Tisch in der Ecke, glücklich mit Stift und Protokollbuch. Der dürre Mann mit der Brille, deren dicke Gläser seine Augen so groß erscheinen ließen, schrieb und schrieb, obwohl niemand ein Wort sprach. Dies ist seine kleine Welt, dachte Benjamin. Und daran hält er fest, so wie seine Finger den Stift halten. Solange er in das große Buch schreiben kann, ist seine Welt in Ordnung. Einige Sekunden lang beobachtete er ihn mit dem sachlich-kühlen, klinischen Interesse, das ein Biologe dem Exemplar einer neuen Spezies entgegenbrachte.
Das Fenster hinter dem großen Schreibtisch in der Mitte des Raums war geschlossen, der Vorhang zugezogen. Hannibal saß dort, in einem Anzug fast so grau wie die Aura, die seinen Protokollführer umgab. Das Licht der Deckenlampe spiegelte sich auf seinem kahlen Schädel wider. Die Augen lagen noch tiefer in den Höhlen, und die Falten in seinem Gesicht schienen länger geworden zu sein. Abigale, von den Toten wiederauferstanden, hatte neben ihm Platz genommen, und Benjamin versuchte ihren Blick zu deuten. Etwas Seltsames lag darin, fast so etwas wie Ehrfurcht, während das Gesicht vor allem Sorge zeigte. Benjamin hatte vor allem
mit Ärger und Zorn gerechnet, mit Kummer und Gram. Abigale trug ihr dichtes, dunkelrotes Haar sorgfältig frisiert, und ihr violettes Kostüm – vielleicht dasselbe, das sie bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte, kurz nach seiner
Weitere Kostenlose Bücher